Advent

Geborgenheit im Schlechten

19451960198020002020

Was kann uns aus der Tiefe der Not entgegenleuchten? Gedanken zu Wittgensteins Maxime „Was immer passiert, mir kann nichts mehr passieren“ – und zum Advent.

19451960198020002020

Was kann uns aus der Tiefe der Not entgegenleuchten? Gedanken zu Wittgensteins Maxime „Was immer passiert, mir kann nichts mehr passieren“ – und zum Advent.

Werbung
Werbung
Werbung

Im Jahre 1993 publizierte ich einen Essay unter dem Titel „Geborgenheit im Schlechten“. Angesichts der weltweiten Not der Menschen, die damals, wie in jeder Epoche, gegen Hunger, Seuchen, Terror und das steinerne Herz ihrer Umwelt kämpften, klang das Wort „Geborgenheit“ regelrecht zynisch, weltfremd. Und heute? Nicht nur verbreitet das Coronavirus Angst und Schrecken, seine Mutationen zersetzen den Schutzschild unserer Gesellschaft, unser Vertrauen auf unsere Überlebenskunst, unseren inneren Zusammenhalt, unsere Humanität. Menschen, die sich nicht den neuen Lebensregeln beugen wollen, dem Impfregime, werden ausgegrenzt, Kinder leiden unter seelischer Vereinsamung und familiärer Zerrüttung, in den Krankenhäusern warten, bei überfüllten Intensivstationen, Todkranke vergeblich auf ihre lebensrettende Operation.

Es ist vielleicht gerade deshalb, dass ich nie aufgehört habe, über das eigentümliche, gerade dem Christentum nicht fremde Motiv – die Geborgenheit im Schlechten – nachzudenken. Wie kann sich der Mensch im Tal der Tränen geborgen fühlen? Gewiss, es gibt paradiesische Winkel auf unserer paradiesfernen Erde. Und es gibt die falschen Paradiese, die reichen Länder, die, auf einem Sockel an Verbrechen ruhend, ihren Reichtum schamlos mehren. Auch wir Mitteleuropäer gehören dazu, wir, die einstigen Kolonialmächte, die ihre Wirtsvölker aussaugten.

Hier Leid, dort Schutzburgen

Wenn der Begriff der Geborgenheit noch einen Sinn haben soll, welcher über den Kitsch der „guten Herzen“ hinausreicht, dann muss gleichsam der Himmel mit ins Spiel kommen: nicht jener Himmel, der im Klimawandel menschheitsbedrohliche Zeichen sendet, sondern jener andere, der als Sitz der Götter galt. Doch wir Aufgeklärten glauben nicht mehr an den Himmel des Mythos, und sei es an den der biblischen Genesis, wo der eine einzige Gott wohnte, der die Schöpfung vollbrachte und am Ende eines jeden Tages befand: „Es ist gut.“

Die Annahme, dass ein Sündenfall der Ursprung all der Not und des Elends hätte sein können, welche die Zeit des Advents mit Schmerzenslauten erfüllen statt mit dem stillen Glanz der Kerzen – diese Annahme sollten wir den christlichen Hardlinern überlassen. In seiner Osterpredigt donnerte der Regensburger Bischof, Rudolf Voderholzer: „Wer zum Himmel spuckt, trifft sich selbst. Vielleicht ist die Menschheit als ganze gerade dabei, sich die eigene Spucke aus dem Gesicht zu wischen.“

Aber die Frage bleibt: Warum müssen so viele von uns leiden, während einige in ihren Schutzburgen aus Geld und Macht ein „geborgenes“ Leben führen? Immerhin, sterblich sind auch sie. Ein schwacher Trost – oder aber gar keiner, weil ja alle sterben müssen …

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung