Gedenken als Hoffnung auf VERSÖHNUNG

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Das Erinnern an die Gefallenen der Weltkriege wurde noch lange nach dem NS-Regime als ,Heldengedenktag' betitelt.

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Das Erinnern an die Gefallenen der Weltkriege wurde noch lange nach dem NS-Regime als ,Heldengedenktag' betitelt.

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In diesen Tagen jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Auch heute noch wird dazu der sogenannte "Schandfrieden" von Versailles bzw. das "Diktat" von St. Germain mit den Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen beklagt. Dazu ist zuerst einmal festzuhalten: Wer einen Krieg beginnt und diesen dann verliert, bekommt am Ende in den Friedensverhandlungen eine Entscheidung aufgezwungen, die ihn benachteiligt. Das zeigen fast alle Kriege. Dieses subjektiv erlebte Unrecht eines Verlierers ist oft der Grundstein für revanchistisch motivierte nachfolgende Kriege. Der Zweite Weltkrieg ist dafür ein Musterbeispiel.

Wie ist aus so einer Spirale der Gewalt herauszukommen, die allein im 20. Jahrhundert zu unermesslich vielen Menschen das Leben geraubt hat? Es gehört zur Lebenserfahrung der Menschen, auf Gegensätze zu stoßen, zur Erkenntnis, dass das eigene Wollen mit dem anderer nicht harmoniert. Wir kennen heftige Diskussionen, ja richtigen Streit, gegenseitiges Anschweigen und aus dem Weg Gehen. Gelegentlich braucht es da eine Dritte oder einen Dritten, die bzw. der vermittelt. Und nicht jeder Konflikt ist ohne Gewalt zwischen den Menschen. Aber wir wissen hier doch zumindest in der Theorie und zum Glück auch häufig in der Lebenspraxis, wie die Eskalation eines Konfliktes begrenzt werden kann.

Die Verhältnisse zwischen Staaten oder Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes sind komplexer, aber letztlich doch ähnlich. Militärisch geführte Konflikte brauchen wochenlange strategische Vorbereitungen. Kriege "brechen" nicht aus wie etwa die Naturgewalt eines Vulkans. Kriege werden geplant und begonnen. Wer einen Krieg beginnt, stellt sich nicht hin und sagt am 1. September 1939: "Wir überfallen jetzt als erstes einmal Polen."

Es gibt immer eine Alternative zu Krieg, also zu einer militärischen Konfliktlösung. Die Politik hat genügend geschichtliche Erfahrungen, um zu wissen, wie es mittels Diplomatie und Verhandeln geht.

Das erste Opfer ist die Freiheit des Wortes

Im kommenden Jahr gedenken wir des 80. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges. Oft sprechen heute noch viele Menschen vom "Kriegsausbruch". Damit sind wir bei einem zweiten wichtigen Gedanken beim Erinnern an Kriege: Die Freiheit des Wortes ist bei Kriegen zumeist das erste Opfer. Die Dinge dürfen nicht mehr beim richtigen Namen genannt werden, die Regierungen der kriegsführenden Länder nehmen den Medien die Freiheit, die eingesetzten Propagandisten beschönigen das, was in Kriegen passiert. Es wird gemordet und hingemetzelt. Die Propaganda nennt die Menschen tötenden Soldaten "Helden".

Das Gewissen der Soldaten ist durch politische Schulung ausgeschaltet. "Unser einziges Gewissen heißt Pflichterfüllung", lautete etwa der Slogan während der nationalsozialistischen Herrschaftsjahre. Das Gewissen des Soldaten war auf Pflichterfüllung reduziert. Darauf haben sich viele ehemalige Soldaten auch noch Jahrzehnte nach dem Ende des fürchterlichen Zweiten Weltkrieges zurückgezogen, statt sich der Frage zuzuwenden: "Wer hat uns junge Menschen so manipuliert? Wie können wir unsere Kinder davor schützen, dass ihnen Ähnliches widerfährt?" Den "Heldengedenktag 1943" stellte das NS-Regime unter den Slogan: "Ewig ist der Toten Tatenruhm." Wer als Soldat der Deutschen Wehrmacht starb, endete in den Kriegsberichten jener Zeit nie qualvoll, er starb den propagandistisch überhöhten "Heldentod".

Das Erinnern an die Gefallenen der Weltkriege wurde in Österreich noch Jahrzehnte nach dem Ende des NS-Regimes mit dem propagandistischen Begriff "Heldengedenktag" betitelt. Dass der austrofaschistische "Ständestaat" ab 1934 sein staatlich verordnetes Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs auch "Heldengedenktag" genannt hat, verringert das Problem übrigens nicht.

Jetzt, im Frieden, ist es einfach, so zu reden, denken sich manche. Ja, das stimmt. Umso wichtiger ist es, den Frieden zu nützen, um das zu bereden und zu klären, was dann viel schwieriger sein wird, wenn wieder jemand meint, jetzt käme man um einen Krieg nicht herum, meint, jetzt gehöre ordentlich dreingefahren und dreingehaut. Vor allem aber: Wir sollten es jenen Politikern und Militärs, die meinen, es ginge einfach nicht ohne Krieg, so schwer wie nur möglich machen. Wir sollten uns einmischen und uns unsere demokratischen Rechte nicht schmälern oder gar nehmen lassen.

Wer an Kriege erinnert, darf nicht nur der Gefallenen und der Vermissten gedenken, sondern muss ebenso stark, wenn nicht gar stärker auf jene Menschen den Blick richten, die sich gegen den Krieg engagiert oder diesem sich entzogen haben: Kriegsdienstverweigerer, Widerständler aller politischen Richtungen, die sich gegen das kriegführende Regime mutig gewehrt haben, Männer, die sich durch körperliche Selbstschädigung dem Kriegseinsatz entzogen, selbstverständlich auch Deserteure, und jene Menschen, die aus dem Land geflohen sind -so wie das die letzten Jahre viele junge Männer aus Ländern, in denen der Krieg tobt, getan haben und immer noch tun.

Aber die Liste der Opfer eines langen, schrecklichen Krieges ist damit bei Weitem noch nicht erschöpft: Hinzu kommen: Kinder, Frauen, alte und chronisch kranke Menschen, die in Kriegszeiten oft schlecht ernährt, oft medizinisch nicht ausreichend versorgt werden, weil die Ressourcen vorwiegend für die Soldaten eingesetzt werden. Oder die Kriegsgefangenen, die man nicht selten verhungern ließ. Die rekrutierten, ausgemergelten Zwangsarbeiter aus besetzten Gebieten. Die überforderten regulären einheimischen Arbeitskräfte, deren Wochenarbeitszeit im Zuge der totalen Kriegsführung von 48 auf 60 Stunden ausgeweitet wurde. Und dabei war noch gar nicht die Rede von den traumatisierenden Erlebnissen der überlebenden Soldaten, die nach dem Krieg damit fast immer ohne Behandlung auf sich allein gestellt blieben.

Daher rufe ich dazu auf, die zahlreichen Mahnmale an die Opfer der letzten zwei großen Kriege so umzugestalten, dass aller genannten Opfer gleichermaßen gedacht werden kann. Das kann ein Beitrag dazu sein, dass Menschen von heute und morgen noch mehr darüber nachdenken, wie umfassend Krieg Leben, physische und psychische Gesundheit, Ängehörige sowie Freunde raubt, dass durch Krieg weiters viele Menschen ihre Heimat und oft auch ihr mühsam erarbeitetes Gut verlieren. Denn nur dieses Erinnern und Nach-Denken befähigt, den Frieden als die Grundlage eines guten Lebens gewaltlos überzeugend zu verteidigen.

Die Voraussetzung: Einsicht und Eingestehen

Die Tage des Kriege-Gedenkens sind eine intensive Zeit der Trauer und der Mahnung. Sie kann getragen sein von der Hoffnung auf Versöhnung, der Versöhnung zwischen den Opfern und Tätern der Kriege im eigenen Land sowie jener in anderen Ländern, über die unsere Vorfahren vor allem Leid gebracht haben. Damit Opfer Tätern Versöhnung anbieten können, braucht es zumeist Einsicht und Eingestehen. Das wird in Zeiten nur mehr weniger lebender Zeitzeugen schwieriger, aber vielleicht auch leichter zugleich.

Ich dachte als fast Erwachsener in den späten 1970er Jahren: Es ist unser gutes Recht als nachgeborene Generation, unsere Eltern zur Rede zu stellen und zu fragen: "Wie war das während des sogenannten 'Dritten Reiches', was wusstet ihr über die Ermordung von Juden und Roma und Sinti, die wir damals noch Zigeuner nannten?" "Wie steht Ihr heute zu den Nazis?" Immerhin waren Sätze wie "Ein kleiner Hitler gehörte wieder her!", "Gleich kastrieren!" oder "An die Wand stellen und sofort erschießen!" an den Wirtshaustischen der 1970er Jahre noch oft zu hören. Mitschüler, die sich überlegten, den Militärdienst zu verweigern, hörten von ihren Vätern zumeist: "Ein bissl Drill schadet euch nicht" oder "Mach mir keine Schande, Bua!"

Wenn sich einer meiner Onkel bei Familienfesten nach dem zweiten Achterl über die tollen Erlebnisse an der Front im Zweiten Weltkrieg erging, schwieg mein Vater. Meine Mutter schützte meinen Vater vor meinen Fragen nach dem Krieg. Er hatte wiederkehrend schwere Herzrhythmusstörungen. Nach der Stellung bekamen wir am Hof von einem Ortsgendarmen wegen meines Zivildienstantrages Besuch. Er meinte, mit meiner Einstellung sollte ich einfach Pfarrer werden, dann bräuchte ich nicht zum Militär. Pfarrer hatte ich mir in jungen Jahren durchaus vorstellen können. Aber später wollte ich es nicht mehr. Dann müsse ich, so der sichtlich nicht fachkundige Gendarm, aufgrund meiner Überzeugungen von einer gewaltlosen Gesellschaft dringend zum Psychiater.

Etliche Jahre später, am Ende meines Studiums, sprach ich mit meinen Eltern erstmals über die Kriegszeit. Ich erfuhr: mein Vater war an der Ostfront, wurde bei der

Rettung eines Kameraden schwer verwundet, zog sich Malaria zu und bekam später eine Auszeichnung dafür. Er hat sie nie getragen. Er meinte: "Was haben wir in Russland verloren gehabt? Wir haben dort nicht unsere Heimat verteidigt!" Er provozierte nach seinem Lazarettaufenthalt durch Baden im Fluss bei Heimaturlauben mehrere Malaria-Rückfälle und kam so wiederholt ins rettende Lazarett. Er kam in der Folge nicht mehr an die Ostfront, sondern nur mehr zu einem Ersatzheer in Mitteldeutschland, wo er bald in Gefangenschaft geriet. Dem Hof, auf den er 1948 einheiratete, hatte der Krieg alle Männer geraubt. Mein Großvater konnte den Verlust nicht ertragen, er verfluchte "Hitler und die ganze Bagage!" lauthals über viele Tage. Zum Glück wurde er nicht vernadert. Es folgte ein Suizidversuch und bald danach Herzversagen mit 56 Jahren. Der Tod des zweiten, bereits verheirateten Sohnes in den letzten Kriegstagen blieb ihm erspart. Bei seinem letzten Heimaturlaub bat dieser zweite Sohn inständig, ihn doch zu verstecken. Den Angeflehten fehlten dazu Erfahrung und Mut.

Neue Erinnerungskultur zu "Krieg"

Menschen, die vor Kriegen zu uns fliehen, möglichst konkret zu helfen, ist für mich persönlich eine Lehre aus dieser Familiengeschichte, gewiss, aber auch aus der österreichischen Geschichte allgemein. Ich habe mich wissenschaftlich viel mit der Flucht von Österreicherinnen und Österreichern in den 1930er und frühen 1940er Jahren befasst. Es waren mehr als 150.000 Menschen. In ganz vielen Ländern der Welt wurde ihnen geholfen. Aber es schlug ihnen nicht selten auch Misstrauen und Abwehr entgegen. Von diesen exilierten Österreichern und Österreicherinnen kamen nur sehr wenige nach dem Ende der NS-Herrschaft nach Österreich zurück. Im Herzen sind viele dennoch Österreicher geblieben, ich bin im Zuge meiner Forschungen etlichen von ihnen begegnet. Sie haben mich durchwegs beeindruckt. Wir sollten mehr an sie erinnern, wenn wir der Opfer des Zweiten Weltkrieges und des NS-Regimes gedenken.

In der Erinnerungskultur zum Thema Kriege braucht es also viel mehr Stimmen als jetzt. Jahrzehnte haben die Männer, die im Krieg waren und danach im Kameradschaftsbund Mitglied wurden, einen sehr engen Blick auf die beiden Kriege des 20. Jahrhunderts gerichtet. Die Erinnerungen der ebenso vielen Mütter, Großmütter, Ehefrauen, Geliebten und Schwestern der -freiwillig oder unfreiwillig - in die Kriege gezogenen jungen Männer blieben ungehört. Ebenso braucht es die Erinnerungen und Lebensgeschichten der Deserteure und der Halb-Deserteure, der geflüchteten Menschen, der während des Krieges Alten und Kranken usw.

Wir sollten dorthin kommen, dass sich die gesamte Gesellschaft in ihrer Vielfalt den Kriegen und seinen weitreichenden Folgen erinnernd stellt. Damit ein kräftiges "Nie wieder Krieg!" gelingt.

| Der Autor ist Prof. für Kommunikationswissenschaft an der Uni Wien |

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