Gefährliche BERÜHRUNG

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Wie explizit muss die Zustimmung zu sexuellen Handlungen sein? Über "Affirmative Consent Kits", sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung.

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Wie explizit muss die Zustimmung zu sexuellen Handlungen sein? Über "Affirmative Consent Kits", sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung.

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Das Leben ist nun einmal krass": Unter diesem Titel erschien am 25. März in der Neuen Zürcher Zeitung ein (ins Deutsche übersetzter) Text des slowenischen Star-Philosophen und - Provokateurs Slavoj Zi zek. Auslöser seines Furors war der letzte kommerzielle Schrei in den USA: sogenannte "Affirmative Consent Kits" - kleine Taschen mit einem Kondom, einem Stift, einigen Pfefferminzbonbons und einem Vertrag. Letzterer hält fest, dass beide "Parteien" darin übereinkommen, einvernehmlichen Sex zu haben. Kalifornien, empörte sich Zi zek, habe ein Gesetz verabschiedet, welches vorschreibe, dass alle staatlich unterstützten Universitäten die Studenten auffordern müssten, vor sexuellen Aktivitäten auf dem Campus eine solche Zustimmung zu sexuellen Handlungen einzuholen. Wer dies verabsäume, sei selber schuld, wenn er später wegen sexueller Nötigung verklagt werde.

"Nur Ja meint Ja!" ("Yes Means Yes") lautet die dahinter stehende Überzeugung: Es braucht ein explizites Ja, um sich auf sexuelles Terrain zu wagen, ein ausbleibendes Nein allein ist zu wenig. "Wenn eine Frau, die verführt wird, nicht aktiv Widerstand leistet, so bedeutet dies gar nichts - der Raum für Anklagen aller möglichen Formen von Nötigung bleibt offen", kritisiert Zi zek. Für ihn eine Entwicklung, die sexuelles Begehren im Keim erstickt - sowie ein weiteres "Zeichen der politisch korrekten Besessenheit, Individuen vor jeder Erfahrung zu schützen, die sie irgendwie als verletzend empfinden könnten." Doch Sexualität, so der Philosoph, sei eben nicht ohne Risiken zu haben: "Sex bleibt ambivalent, gefährlich und lässt sich nicht einhegen."

Sexuelle Entfaltung und Schutz

Eine Feststellung, die angesichts der USamerikanischen Absicherungswut erfrischend klingen mag; angesichts des Ausmaßes an sexuellem Missbrauch und Gewalt, das in kirchlichen wie staatlichen Institutionen weltweit offenbar wurde und in vielen Familien weiter existiert, aber empören muss. Ja, Sex ist gefährlich, aber der Versuch, ihn "einzuhegen", unterscheidet den Menschen vom Tier.

Der Begriff, unter dem dabei die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach sexueller Entfaltung einerseits sowie nach Schutz vor Übergriffen andererseits verhandelt wird, lautet "sexuelle Selbstbestimmung".

Sie leben zu können, ist freilich vielen verwehrt - auch und besonders Menschen mit einer Behinderung. Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass sie wesentlich häufiger Opfer sexueller Gewalt werden als der Bevölkerungsdurchschnitt. Insbesondere Frauen mit Lernschwierigkeiten würden sexuell ausgebeutet, betont der Wiener Verein "Ninlil". Zugleich werden behinderte Menschen gerade in Wohneinrichtungen häufig ihrer (in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen) Rechte beraubt, schreibt die deutsche Heilpädagogin Barbara Ortland in ihrem Buch "Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung"(s. Tipp): durch fehlende Rückzugsmöglichkeiten, Unsicherheit bei den Mitarbeitenden oder auch ängstliche Väter und Mütter. "Eltern und Kinder tun sich generell wechselseitig mit dem Thema Sexualität schwer", weiß auch der Salzburger Sexualpädagoge Wolfgang Plaute. "Im Fall eines behinderten Kindes, bei dem die Eltern meist lange Zeit auch in privatesten Bereichen Entscheidungen treffen, wird das doppelt schwierig."

Ein aktueller Fall, der diese Schwierigkeit besonders drastisch aufwirft und von der New York Times medial begleitet wird, ist jener von Anna Stubblefield. Die 47-Jährige war einst Professorin für Ethik an der Rutgers University im US-Bundesstaat New Jersey. Heute sitzt sie im Gefängnis und hofft dieser Tage auf ihr Berufungsverfahren. Ein Richter hat sie im Herbst 2015 wegen schweren sexuellen Missbrauchs zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Ihr Opfer (bzw. aus ihrer Sicht ihr Geliebter) war "D. J.", wie er in den Prozessakten genannt wird, ein heute 35-jähriger Mann mit Zerebralparese (frühkindlicher Hirnschädigung), die sich bei ihm in spastischen Muskelkrämpfen in Gesicht, Oberarmen und Gliedmaßen äußert. Ein Psychologe hatte dem Mann, der bis heute kein einziges Wort gesprochen hat, den kognitiven Entwicklungsstand eines Kleinkindes attestiert. Stubblefield, die sich intensiv mit der (umstrittenen) Methode der "Gestützten Kommunikation" (Facilitated Communication) beschäftigt hatte, zweifelte freilich an seiner intellektuellen Beeinträchtigung. Auf Bitten des Bruders von D. J. versuchte sie, ihm durch Berühren seiner Arme und mit Hilfe einer Tastatur zu helfen, sich auszudrücken. Die Fortschritte verblüfften und wurden auch auf Video dokumentiert. Stubblefield, eine verheiratete Mutter zweier Kinder, entwickelte freilich im Laufe der Zeit auch "romantische" Gefühle für D. J. - und war sich auf Grund seiner (gestützten) Äußerungen sicher, dass sie erwidert wurden. Die Familie reagierte hingegen schockiert -vor allem darauf, dass es auch zu sexuellen Kontakten gekommen war - und klagte Stubblefield wegen Missbrauchs. Eine Sicht, die der Richter teilte, ohne die Videos als Beweismaterial für D. J.s Zustimmungsfähigkeit zuzulassen.

Nun hat Stubblefield erfolgreich ein Berufungsverfahren angestrengt und unlängst prominente Unterstützung erfahren. Ausgerechnet Peter Singer, jener australische Philosoph, der wegen seiner utilitaristischen Haltung zum Lebensrecht behinderter Säuglinge seit langem für Entsetzen sorgt (auch bei Anna Stubblefield), forderte Gerechtigkeit für sie. In einem Beitrag für die New York Times vom 3. April kritisierte er freilich nicht nur, dass Beweise unterschlagen worden wären und die zwölfjährige Haftstrafe unverhältnismäßig sei. Er ging auch noch weiter: Falls D. J. doch "schwer geistig behindert" sei, so Singer, könne er ja "die normale Bedeutung von sexuellen Beziehungen zwischen Personen oder die Bedeutung von sexueller Gewalt" nicht verstehen und wäre auch unfähig, einer sexuellen Beziehung bewusst zuzustimmen oder sie abzulehnen. Zudem sei plausibel, "dass die Erfahrung ihm gefallen hat". Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten: "Peter Singer meint, dass es okay sein könnte, behinderte Menschen zu vergewaltigen", hieß es tags darauf in einem Leserbrief.

"Nur Ja meint Ja!": Was bedeutet diese Position in schwierigen Fällen wie D. J.? Wo verläuft die Grenze zwischen dem Recht auf körperliche Nähe und jenem nach Schutz? Nicht nur für das Berufungsgericht in den USA schwierige Fragen, auch für alle, die in Österreich mit beeinträchtigten Menschen arbeiten. "Wenn D. J. tatsächlich eine kognitive Beeinträchtigung hätte, hätte es sich um einen massiven sexuellen Übergriff gehandelt", stellt Wolfgang Plaute klar. "Jede Argumentation, die -wie bei Singer -eine Relativierung vornimmt, ist menschenrechtsverletzend, inhuman und entschieden abzulehnen." Wäre D. J. aber in der Lage gewesen, das Geschehen kognitiv einzuordnen und sein psychosexueller Entwicklungsstand so, dass ein tatsächliches Bedürfnis nach partnerschaftlich-genitaler Sexualität vorgelegen ist, sei alles "völlig akzeptabel" gewesen. Es gehe also immer um eine Einzelfallbetrachtung, so Plaute.

Beständige Gratwanderung

Ähnlich argumentiert die Wiener Bildungswissenschafterin Gertraud Kremsner, die in ihrer jüngsten Dissertation biografische Erzählungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten analysiert hat und vielfach auf sexuelle Gewalterfahrungen gestoßen ist, bis hin zur Zwangssterilisation. "Grundsätzlich kann man diesen Menschen zutrauen, selbst zu entscheiden. Es bleibt aber eine Gratwanderung, wann es sich um eine echte Zustimmung handelt oder jemandem etwas eingeredet wird", sagt sie.

"Stubblefield hätte sich ein klares Ja holen müssen", meint indes Anna Wolfesberger, Leiterin des Vereins "Senia" in Linz, der nicht nur sexualpädagogische Workshops für Betroffene anbietet, sondern sich auch um die Beratung und Einbindung von Eltern und Sachwaltern bemüht. Klar ist für sie jedenfalls, dass erst das "Normalisieren" von Sexualität für Menschen mit Behinderung und das Bewusstmachen ihrer Rechte die Gefahr von Übergriffen reduziert. "Senia" hat deshalb gemeinsam mit dem Land Oberösterreich ein Gütesiegel für Träger von Wohneinrichtungen entwickelt, das im Herbst erstmals vergeben wird. Slavoj Zi zek mag so etwas als "krass" oder bürokratischen Humbug bewerten. Aber sei's drum.

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