Gefangen in der Abhängigkeit

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"Seit es Menschen gibt, ist das Kind als Eigentum der Eltern angesehen worden und in jeder Weise auch sexuell ausgenützt worden." - Ein umfassendes Handbuch informiert jetzt über Forschung, Beratung und Therapie bei sexuellem Mißbrauch.

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"Seit es Menschen gibt, ist das Kind als Eigentum der Eltern angesehen worden und in jeder Weise auch sexuell ausgenützt worden." - Ein umfassendes Handbuch informiert jetzt über Forschung, Beratung und Therapie bei sexuellem Mißbrauch.

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Es geht nicht um Sex, sondern um Macht: Diese These zum sexuellen Mißbrauch scheint doch nicht ganz zu stimmen. Sexuelle Motive stehen im Vordergrund, wenn Erwachsene Kinder oder Jugendliche mißbrauchen - zumindest dem ersten Anschein nach.

Trotzdem - die Macht ist das, worauf es ankommt. Ohne Machtgefälle zwischen Täter und Opfer wäre Mißbrauch nicht möglich. Sexueller Mißbrauch ist immer Machtmißbrauch.

Die Täter: oft nahe Angehörige, Aufsichts- oder Vertrauenspersonen, selten Fremde. Überwiegend männlich. Die Opfer: viel jünger als der Täter, materiell oder emotional von ihm abhängig, überwiegend weiblich.

Der Tathergang: meist Ausnützen des kindlichen Vertrauens, seines Anlehnungs-, Zärtlichkeits- und Anerkennungsbedürfnisses, seltener brutale Gewalt.

Was immer dazugehört: Der Täter schiebt die Schuld dem Opfer zu. Stempelt es zum Verführer oder zumindest zum Mittäter. So wird es dem Kind unmöglich gemacht, sich anderen anzuvertrauen. Oft dauert es Jahrzehnte, bis sich das Opfer dazu durchringen kann, die ihm auferlegte Schweigepflicht zu brechen; in vielen Fällen gelingt das erst im Rahmen einer Therapie.

Eine weitere handelnde Person in der Tragödie: Jene, die das Kind beschützen sollte, der es sich aber nicht anvertrauen darf; meist die Mutter. Sie macht es dem Täter oft leichter als dem Opfer. Sie hört nichts, sieht nichts, hilft nicht, weil sie selbst in das Netz von Macht und Abhängigkeit verstrickt ist.

Die Machtstrukturen, die diese Vorgänge ermöglichen, sind so alt wie die Menschheitsgeschichte: "Seit es Menschen gibt, ist das Kind als Eigentum der Eltern angesehen worden und in jeder Weise auch sexuell ausgenutzt worden. Die Macht der Erwachsenen über das Kind ist selbstverständlich, und schon deshalb wird nicht darüber geredet", schreibt Elisabeth Trube-Becker im Handbuch "Sexueller Mißbrauch - Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie". Mädchen seien davon seit jeher doppelt betroffen - wegen des zusätzlichen Machtgefälles zwischen "männlich" und "weiblich".

Jahrtausendealte Dokumente bezeugen: Immer schon wurde das Opfer zum Sündenbock gestempelt. Kam es zu einem Kindesmißbrauch ohne Einwilligung des Vaters als "Eigentümer", wurde das Kind, das sich offensichtlich zu wenig gewehrt hatte, gesteinigt ...

Barbarisch, in der heutigen Zeit unvorstellbar? Bei der Lektüre des Handbuches kommen daran Zweifel auf. Es scheint so, als lebten dort, wo es zu Kindesmißbrauch kommt, diese uralten Machtstrukturen wieder auf. Zwar sind die unmittelbaren Auswirkungen anders; das Muster, nach dem sich Mißbrauch abspielt - bis hin zur Zerstörung der Zukunft des Opfers - ist jedoch immer wieder das gleiche.

Das Handbuch, herausgegeben von den Salzburger Psychologen Gabriele Amann und Rudolf Wipplinger, gibt Auskunft über Ursachen, Verbreitung und Folgen sexuellen Mißbrauchs sowie über Diagnostik, Bewältigung, Therapie und Prävention. Auch die Tätertherapie wird berücksichtigt. Im Mittelpunkt steht aber das Opfer. Das - selbst wenn ihm der Täter Verhaltensweisen beigebracht hat, die es wirklich als "Verführer(in)" erscheinen lassen - nie selbst an dem schuld ist, was ihm angetan wurde.

Sexueller Mißbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch Herausgegeben von Gabriele Amann und Rudolf Wipplinger, dgvt-Verlag, Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, Tübingen 1997, 877 Seiten, öS 642,

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