GEFANGEN in der Abwärtsspirale

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Du verlierst nicht nur den Job: Du siehst die Kollegen nicht mehr und irgendwann sind auch die Freunde weg, weil du kein Geld hast, um mit ihnen auszugehen.

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Du verlierst nicht nur den Job: Du siehst die Kollegen nicht mehr und irgendwann sind auch die Freunde weg, weil du kein Geld hast, um mit ihnen auszugehen.

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Agenda 21 Plus" steht auf einem A4-Zettel geschrieben, der auf einer Tür im Erdgeschoss der Volkshochschule Alsergrund in Wien klebt. Für gewöhnlich bietet das Zimmer den Bewohnern des Bezirkes die Möglichkeit, sich etwa über die Gestaltung der Gegend zu unterhalten. Heute, am Montag um 14 Uhr, sitzen bereits zwei Männer im Büro. Am Tisch steht ein länglicher Karton mit frischen Krapfen, Peter Gach und Roman T. nippen an ihrem Kaffee. Sie warten noch auf einen dritten Kollegen. Anders als sonst wird aber nicht der Bezirk Alsergrund als Thema auf der Tagesordnung stehen: Wie jeden Montag um diese Zeit tauscht man sich heute über den Alltag und die Probleme als Arbeitsloser aus.

"Gutes Leben für alle"

Die Selbsthilfegruppe "Gutes Leben für alle" existiert nun schon seit Herbst 2004 und wird von der Selbsthilfe-Unterstützungsstelle Wien mitfinanziert. Der "feste Kern" der Gruppe besteht aus dem Leiter Peter Gach, dem ehemaligen Druckereihelfer Roman T. und dem gerade eintreffenden Johannes H. "Wenn keine Neuen kommen, dann ist das immer ein recht freundschaftliches Treffen, bei dem wir Tarock spielen. Wenn aber jemand kommt, hören wir uns einmal das Anliegen an und versuchen zu helfen", erklärt Gruppenleiter Gach.

Die Nachfrage ist angesichts der aktuellen Arbeitslosenzahlen ungebrochen: Derzeit sind laut AMS rund 450.000 Menschen in Österreich ohne Job. Davon sind aber nur rund 370.000 offiziell als arbeitslos gemeldet -rund 80.000 befinden sich in Schulungen des AMS.

Besonders massiv betroffen von Arbeitslosigkeit sind Menschen mit Behinderung und Leute über 50 Jahren: So verzeichneten Personen mit körperlicher Beeinträchtigung einen Zuwachs von knapp 28 Prozent und "ältere" Arbeitnehmer eine Steigerung von 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Arbeitslosigkeit von ausländischen Personen ist im letzten Jahr um rund 15 Prozent gestiegen. Immer schwerer wird es auch für Jugendliche - sieben Prozent von ihnen sind derzeit auf der Suche nach einer Lehrstelle.

Zurück zur Selbsthilfegruppe: Gruppenleiter Gach erzählt, dass er letzte Woche eine Alleinerzieherin mit drei Kindern zur Begutachtung einer Versicherungsanstalt begleitet hat: "Sie hat das Gefühl, dass sie dann besser über ihre Beeinträchtigungen reden kann und ernster genommen wird. Vor lauter Druck weiß man ja in solchen Situationen oft nicht, was man den Arzt alles fragen soll. Da ist es schon eine Hilfe, wenn man eine Begleitperson dabei hat", erklärt er.

Die Sorgen von unbeschäftigten Menschen kennt er gut: Neun Jahre lang war er als Rotationshelfer in einer Druckerei angestellt, dann ein doppelter Schicksalsschlag: Innerhalb eines Jahres musste er den Tod seiner Mutter und seiner Freundin verarbeiten. Geplagt von Trauer und nervlich am Boden, kann er nicht einmal die Beerdigung seiner Lebensgefährtin besuchen -weil die beiden nicht verheiratet waren, darf er sich nicht frei nehmen. Es folgen Streitigkeiten mit dem Meister, kurze Zeit später wird er letztlich fristlos entlassen. "Und dann bin ich total abgestürzt", erinnert sich Gach.

Das einst florierende grafische Gewerbe bot immer weniger Arbeitern eine Stelle und selbst beim AMS habe man gewusst, dass es für den Druckereihelfer keinen passenden Job mehr gäbe. Nach vielen Rückschlägen beschließt Gach, sein Leben wieder voranzutreiben und schließt sich einem Projekt der Volkshilfe Wien an, bei dem zweimal in der Woche gemeinsam gekocht wird.

Ewiges bergauf und bergab

Zu dieser Zeit reicht Gachs Budget gerade einmal für zwei warme Leberkäsesemmeln pro Woche. "Die Teilnahme an der Kochgruppe hat sich wahnsinnig positiv auf mich ausgewirkt, nicht nur weil ich zu essen hatte, sondern auch, weil es immer tolle Rückmeldungen gab", sagt er.

Den großen Wert von positiven Reaktionen kennt auch Johannes H. Nachdem er 16 Jahre lang bei einer Lebensmittelfirma gearbeitet hat, scheidet er durch ein Burnout-Syndrom aus dem Beruf aus. Drei Jahre lang ist er arbeitslos: "Man will arbeiten, findet aber keine neue Stelle. Das war hart", meint er rückblickend. Erst als er beim Carla-Laden Mittersteig der Caritas Wien eine Beschäftigung in der Möbelabteilung findet, geht es langsam wieder bergauf: "Ich habe gesehen, dass ich etwas schaffen kann. Das hat mich wieder in die Höhe gehoben", sagt er. Dass der Vertrag zeitlich begrenzt war, war für ihn "katastrophal".

Peter Gach kann die Situation seines Freundes nachvollziehen. Erst heute wird ihm bewusst, welche Folgen der Status "arbeitslos" mit sich bringt: "Man verliert nicht nur die Beschäftigung. Man sieht die Kollegen nicht mehr und irgendwann sind auch die Freunde weg, weil man nicht mehr das Geld hat, um mit ihnen auszugehen", meint er nachdenklich.

Arbeitslose haben nicht nur mit der eigenen Situation zu kämpfen -oft ist der Umgang mit den Reaktionen der Mitmenschen am schwierigsten: "Es ist natürlich immer leicht zu sagen, dass jemand selbst schuld an seiner Situation ist", überlegt Gach. "Aber wenn etwa Teile der Firma ausgelagert werden, oder man mit 45 Jahren den Posten verliert und dann nichts annähernd Gleichwertiges mehr bekommt, dann ist man nicht selbst schuld".

Nun meldet sich das dritte Mitglied der Gruppe, Roman T., zu Wort. Er war als Offset-Helfer in der Druckereibranche tätig. Weil dieser Zweig in den 1960er-Jahren besonders gefragt war, wechselte er oft den Arbeitsgeber, um seine Konditionen zu verbessern. "Wenn man am Freitag bei einer Firma aufgehört hat, konnte man am Montag bei der nächsten anfangen", fällt ihm Peter Gach ins Wort, der ebenfalls in dieser Branche beschäftigt war.

Die letzte Firma, bei der Roman T. angestellt war, musste jedoch Konkurs anmelden. Durch das ständige Heben der schweren Arbeitsgeräte hatte der Druckereihelfer zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Bandscheibenvorfälle erlitten. Auch ein chronisches Augenzittern wurde diagnostiziert. Weil er als arbeitsunfähig gilt, wird er vom AMS seither krank geschrieben. "Wenn ihm das passiert, während er beschäftigt ist, dann würde man ihm nahelegen, in Frühpension zu gehen. Für uns Arbeitslose ist dieser Weg ausgeschlossen. Da wirkt es gleich ganz anders, wenn man zur Versicherungsanstalt geht und das beantragt", bedauert er.

Steiniger Weg zur Pension

Obwohl Roman T. die Prozedur von Amtsärzten, Gutachtern und Versicherungsanstalten bereits mehrfach durchlaufen hat, wurde sein Antrag auf Frühpension bisher immer abgewiesen. Auch die Zukunft von Johannes H. ist noch ungewiss. Gruppenleiter Gach hat sein Leben von Grund auf geändert: Nachdem er erfahren hat, dass er an Diabetes und Hepatitis C mit Leberzirrhose leidet, hat er Alkohol und Zigaretten komplett gestrichen. Ab ersten Juni wird er regulär in Pension sein. Durch sein soziales Engagement, etwa in der Armutskonferenz (ein Netzwerk sozialer Hilfsorganisationen), bekommt er nun auch oft die Möglichkeit, für verschiedene Zeitschriften Artikel zu schreiben. "Mir geht es wieder gut: Jetzt, wo ich nicht mehr von AMS und Sozialhilfe abhängig bin, fällt der ganze Druck endlich ab".

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