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Sie wurden in Forschung und Praxis oft unterschätzt: Geschwisterbeziehungen. Dabei sind sie die längsten Bindungen unseres Lebens. Man streitet sich ständig und weiß, am Ende muss die Versöhnung stehen. Vom Wert der Lebensschule im geschützten Raum .

Stellen Sie sich vor, Sie müssten einen Vortrag halten, einen Ihrer wichtigsten in Ihrem bisherigen Leben. Welche Personen sollten dann möglichst nicht im Publikum sitzen und die Daumen drücken? Für manche würde wohl die Antwort lauten: die Mutter und das einem am nächsten stehende Geschwister, das einen leicht verschmitzt anlächelt und schon zum infantilen Loslachen verleitet. Wenn der Vortrag dann aber besonders gut oder schlecht gelaufen ist, würde man genau diese Personen wohl zuerst anrufen, um gemeinsam aufzuatmen oder um sich auszuheulen.

Geschwister – man ist ihnen so nah, dass man jeden Blick deuten kann, der einen an das gemeinsame Gefühl der Kindertage erinnert. Und doch – man versucht, ein eigenes Leben zu leben und nicht immer mit dem Bruder oder der Schwester verglichen zu werden. Man rivalisiert, grenzt sich ab, eifert ihnen aber insgeheim nach, hasst sich, will weg von ihnen, und kehrt doch immer wieder zu ihnen zurück, man liebt sich und spürt ein inneres Band. Was aber genau unterscheidet die Beziehung von Geschwistern von anderen engen Bindungen in unserem Leben? „Sie sind die längsten Bindungen unseres Lebens“, so die bestechend einfache Antwort des deutschen Psychoanalytikers Horst Petri, der in seinem Buch „Geschwister, Liebe und Rivalität“ (Kreuz Verlag, 2006) dieses besondere familiäre Verhältnis beleuchtet, das in unserem Leben von der Geburt bis zum Tod unterschiedliche Rollen einnimmt. Wie andere familiäre Bindungen würden sie stärker innerlich verankert werden als spätere Bindungen außerhalb der Familie, sagt Petri im FURCHE-Gespräch. Sie würden auch ungeschriebenen Gesetzen von Familiensystemen unterliegen, jenen von Loyalität und vor allem von Gerechtigkeit. Die Psychoanalyse, ausgehend von ihrem Gründer Sigmund Freud, habe den Fokus zu stark auf das Moment der Rivalität, der Konflikte zwischen Brüdern und Schwestern gelegt, erklärt Petri. Zu kurz sei dabei der Aspekt der Liebe zwischen Geschwistern gekommen. Doch auch der Lerneffekt durch die ständigen Streitereien mit Geschwistern wird von Forschern letztlich als wichtig angesehen.

Geburtenrang entscheidend?

Petri betont die Wichtigkeit „dieser Grunderfahrung, sich im Schutzraum der Familie auseinandersetzen zu können, sich zu streiten, sich zu versöhnen, verzichten zu lernen und Rücksicht zu nehmen“. So heftig ein Streit mit der Schwester oder dem Bruder auch sein kann, man weiß, wieder im gemeinsamen Zimmer schlafen zu müssen. Und es sind die einzigen Streitigkeiten – außer mit den Eltern – wo man nicht fürchten muss, dass Beziehungen völlig abgebrochen werden, zumindest nicht in der Kindheit. „Geschwister können dem anderen auch Wahrheiten sagen, die Außenstehende einem nie sagen dürften“, fügt Petri hinzu.

So wie die Psychoanalyse den Fokus zunächst vor allem auf die Rivalität gelegt hat, so stand in der empirischen Sozialforschung die Geschwisterkonstellation lange im Vordergrund: Der Geburtenrang als Schicksal. Ehrgeizigere Erstgeborene, vernachlässigte Mittlere und verwöhnte oder rebellische Letztgeborene. Alles Unsinn? Nicht ganz. Zwar würden viele Faktoren auf Geschwisterbeziehungen einwirken, so Petri oder Geschwisterforscher wie der Münchner Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten in seinem Buch „Geschwister, Vorbilder, Rivalen, Vertraute (Verlag Reinhardt, 2003); aber manches ließe sich doch dazu sagen, wenn man der Forschung, aber auch der praktischen Erfahrung folgt: Die günstigste Geschwisterkonstellation ist laut Petri eine Bruder-Schwester-Konstellation. Bruder-Bruder gilt als die schwierigste, weil es ein höheres Maß an Aggression gibt. Auch werde die Beziehung zu älteren Geschwistern meist freier von Ambivalenz erlebt, erklärt der Psychoanalytiker Petri. „Das ältere Geschwister spornt einen an, es trägt Verantwortung, es fördert einen und hilft einem bei der schwierigen Ablösung von den Eltern. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass Geschwister als eingeschworene Schutzgemeinschaft gelten, die in Abgrenzung von den Eltern ihr eigenes Subsystem bilden, und dadurch die Ablösung erheblich vereinfacht wird.“ Petri gesteht aber ein, dem Rang in der Geschwisterreihe früher weniger Bedeutung beigemessen zu haben als heute. Inzwischen – nach jahrelanger Praxis – sei er sehr wohl der Meinung, dass die Position des Kindes einen gewissen Einfluss auf die Entwicklung eines Menschen habe, einen von vielen Faktoren wie die Beziehung der Eltern untereinander, ihre Beziehung zum jeweiligen Kind, Altersabstände, die soziale Situation der Familie, der Erziehungsstil usw. Das Schicksal Geschwister ist gewiss eher ein Schicksal Familie, so Fachleute.

Hänsel und Gretel – alleine im Wald

Die enorme Bedeutung von Geschwisterbeziehungen zeigen auch die zahlreichen Bibelgeschichten und Märchen, beginnend mit Kain und Abel bis zu Figuren wie Hänsel und Gretel. Petri weist darauf hin, dass die Geschichte um Kain und Abel eines deutlich mache: die ungerechte Behandlung von Geschwistern, die fatale Folgen haben kann.

Hänsel und Gretel wiederum verkörpern die Liebe zwischen Bruder und Schwester, die beide so stark zusammenhalten, dass sie sogar ohne Eltern durch die Welt gehen könnten. Und wenn sie heute noch wirklich leben würden – haben sich Geschwisterbeziehungen in der modernen Gesellschaft mit Umbrüchen in Familiensystemen verändert? Petri glaubt nicht, dass sich die Beziehungen an sich verändert hätten, sieht aber sehr wohl die Gefahren durch die zunehmende Zahl von Einzelkindern (siehe Seite 22). „Man kann fast vom Aussterben von Geschwistern sprechen“, meint Petri überspitzt. Zu Recht? Vielleicht gewinnen dann jene geschwisterähnlichen Beziehungen wie Blutsbrüder oder -schwestern wieder eine neue Bedeutung, die ja ähnlich legendär sind wie Geschwisterbindungen an sich. Die Sehnsucht nach tiefgehenden Bindungen macht erfinderisch.

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