Geliebter Häftling ohne Ausblick

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Sie lernt ihn an ihrem 16. Geburtstag kennen, Liebe auf den ersten Blick, neun Jahre später wird geheiratet - neun Jahre, die er als "Lebenslanger" im Gefängnis gesessen hat. Ausbruchsversuche reißen ihn noch tiefer hinein. 30 Jahre nach der ersten Liebe sind beide übrig geblieben - und das "lebenslänglich".

Die Wohnungstür fliegt auf, Polizisten mit gezogener Waffe stürzen herein. Silvia Chmelir wirft sich schützend über ihr wenige Monate altes Baby; als sie die Polizei als solche erkennt, weiß sie, ihr Mann wird gesucht - doch er ist nicht bei ihr.

Sommer 1989: Juan Carlos Chmelir, geborener Bresofsky, bricht aus der Justizanstalt Graz Karlau aus. Der zweite Ausbruch des zu lebenslänglicher Haft verurteilten Raubmörders. 1983 schafft er es bei seinem ersten Versuch auf das an die Justizanstalt Garsten angrenzende Kirchendach. Nationale und internationale Medien berichten vom Häftling, der mit seinem "Sitzstreik" gegen die Haftbedingungen in Österreichs Justizanstalten protestiert.

Auch den Ausbruch 1989 erklärt Chmelir zum Protest, der über "Sklaverei und Tyrannei in den Gefängnissen" informieren sollte. Doch die Anklage findet wenig Gehör. Denn auf dieser Flucht nimmt er eine 37-jährige Frau zur Geisel, versucht mit ihr drei Tage lang, zuerst in ihrem Auto, dann zu Fuß, zur österreichisch-jugoslawischen Grenze zu kommen. Gemeinsam unterwegs vergewaltigt er die Frau mehrmals. In Klagenfurt lässt er sie frei; mit einer Selbstanzeige und einem Protestbrief gegen die Haftbedingungen schickt er sie zur Polizei, fünf Tage später wird er geschnappt und zu weiteren 18 Jahren Haft verurteilt.

"Rachejustiz" sagt Silvia Chmelir dazu. Sie führt für ihren Mann ins Treffen, dass die Geisel zu Protokoll gegeben hat: "Er war nicht brutal zu mir, aber es war gegen meinen Willen." Und sie wundert sich, dass die Geisel in Cafés, Geschäfte, zu Bauernhöfen mitgegangen ist, aber keine Hilfe gesucht hat.

Der damalige Geiselnehmer hat seine damalige Geisel inzwischen mehrmals telefonisch kontaktiert. "Zum Entschuldigen und zum Frieden machen", sagt er. "Das passt zu ihm, so ist er", sagt sie. Und wenn Frau Chmelir von Juan redet, dann sagt sie "Schuan". Es war "das Südamerikanische an ihm", das ihr immer so gefallen hat. Seit ihrem 16. Geburtstag vor 30 Jahren, an dem ihr "der Schuan" in einer Diskothek begegnet ist.

Kinderheim, Erziehungsanstalt, Gefängnis

Zu diesem Zeitpunkt war Juan Carlos Bresofsky eigentlich schon lange ein "Lebenslanger". Auf dieses Urteil steuert er von einem Junitag 1962 an hin: Da kommt er als 13-Jähriger mit seinen Eltern von Uruguay nach Österreich. Sein Vater war vor den Nazis dorthin geflüchtet, zurück kehrt er mit einer indio-stämmigen Frau und sieben Kindern. Den Wechsel vom freien Leben in der Prärie nach Wien erlebt Chmelir als Schock. Die Familie zerbricht. Die Kinder kommen in ein Heim, später in Erziehungsanstalten. Seine Schwestern trifft Chmelir erst Jahre später wieder. Zwei davon als Prostituierte - Zuhälter haben sie aufgegriffen, nachdem sie aus ihrem Heim ausgerissen sind.

Juan Carlos begehrt auch auf, mit Selbstbeschädigungen, mit Ausbrüchen. Einmal werfen ihm seine Verfolger eine Heugabel hinterher, verfehlen ihn nur knapp. Da lernt er, dass ein Leben nicht viel wert ist. 1965 wird er wegen Einbruchs in Schrebergärten verurteilt, kommt ins Jugendgefängnis. Dort wiederholen sich die Erlebnisse aus den Erziehungsanstalten: Beschimpfungen, Schläge, Essensentzug, Sklavenarbeiten in den Privathäusern und Wohnungen der Aufseher, sadistische Misshandlungen, sexuelle Übergriffe … Wieder frei, versucht er aus diesen Erfahrungen Geld zu machen. Ein halbes Jahr später wird er wegen Einbruchs und Erpressung von Homosexuellen zu langjähriger Haft verurteilt. Von 1968 bis 1976 sitzt er in der Justizanstalt Stein. 1978 lernt er Silvia Chmelir kennen. Kurz darauf tötet er bei einem Postüberfall einen Menschen, ein anderer wird schwer verletzt - das "Lebenslang" des Juan Carlos Chmelir ist offiziell.

An ihrer Antwort auf die Frage, warum sie einen Schwerverbrecher, einen Mörder liebt, immer noch liebt, sind viele Beziehungen und Freundschaften von Silvia Chmelir gescheitert. "Sie verstehen nicht, was ich an dem Typen finde", sagt sie. "So einer wie der gehört ganz weg! Für immer weg!", hat man ihr oft vorgehalten. Sie aber will, dass er bleibt. "Ich habe mich innerlich nie von ihm lösen können", sagt sie. Äußerlich schon. 1990 lässt sie sich scheiden, nach der Geburt ihres Kindes von einem anderen Mann, nach seinem Ausbruchsversuch aus der Karlau. Doch nicht lange, und die äußerliche Trennung zieht gegen die innerliche Zuneigung den Kürzeren: Sie besucht ihn wieder im Gefängnis.

2007 schreibt Silvia Chmelir an den Landesgerichtspräsidenten von Steyr: "In der Hoffnung, dass mein Freund und Ex-Mann nach drei Jahrzehnten in das Programm für eine Haftentlassung kommt, werde ich voll hinter ihm stehen und ihn mit meiner ganzen Kraft und Liebe unterstützen. Wir streben auch eine gemeinsame Zukunft in meinem bescheidenen Haushalt an. Die dafür gesetzlichen Auflagen werden wir selbstverständlich erfüllen. Ich möchte noch hinzufügen, dass eine Verbundenheit, die über drei Jahrzehnte anhält - der Beweis sind meine vielen und vielen Besuche - eine Chance verdient."

Keine Arbeit, keine Resozialisierung

Eine Chance für Juan Carlos Chmelir? Im März 2008 stellt seine Verfahrenshelferin einen Antrag auf Resozialisierungsmaßnahmen, damit ihm endlich Arbeit zugeteilt wird, damit er endlich an Therapiemaßnahmen teilnehmen darf - erfolglos. Ohne Entlassungsvorbereitung hat Chmelir keine Chance auf Entlassung, wird sein "Lebenslang" immer mehr dem Wortsinn gerecht.

Die Verfahrenshelferin und der Landesgerichtspräsident von Steyr drängen daraufhin auf eine weitere Vollzugsverhandlung. Am 7. Oktober findet diese statt: Chmelir kann beweisen, dass er an Resozialisierungsmaßnahmen teilnehmen will, aber nicht darf. Die Anstaltsleitung Garsten legt dar, dass sie Chmelir nichts verweigere, die Wartelisten für Arbeit und Therapien aber sehr lang seien.

Silvia Chmelirs Angst, dass "sie ihn abdrehen da drinnen", bestätigt sich erneut: "Er war ein Revoluzzer - das verzeihen die ihm nie!" Nach seinen Ausbruchsversuchen betätigt sich Chmelir als Informant für die Presse. profil-Aufmacher über die Häftlings-Revolte 1992 in Stein verdanken sich seinen Informationen. 2004 wird er über Nacht von Stein nach Garsten verlegt und verliert seine Gefängnisarbeit. Warum? Chmelir glaubt, die Verlegung hänge damit zusammen, dass er sich nach dem Todesfall eines Afrikaners in der Justizanstalt Stein als Zeuge bei der Polizei und amnesty international gemeldet hat.

Beamten-Rache an einem Revoluzzer?

Zu den Gründen für die Verlegung nach Garsten will sich der dortige Anstaltsleiter, Norbert Minkendorfer, nicht äußern. Ansonsten macht er im Telefongespräch deutlich, dass er kein Mädchenpensionat, sondern ein Hochsicherheitsgefängnis zu führen hat. Und da gehört Chmelir seiner Meinung nach hin: "Weil er extrem fluchtgefährlich ist, und das darf nicht mehr passieren!" Die letzten 15 Jahre gute Führung von Chmelir lässt der Gefängnisdirektor nicht gelten - er trage die Letztverantwortung. Lässt er Chmelir frei und es passiert etwas, "werde ich medial abgeschossen!" Mit Rache, sagt Minkendorfer, habe das lange Warten Chmelirs auf Resozialisierungsmaßnahmen jedenfalls nichts zu tun. Chmelir ist ihm "nicht unsympathisch" und er will sich für Arbeitsbeschaffung, Einzeltherapien und ein neues Gutachten einsetzen: "Früher oder später kommt er frei!"

Juan Carlos Chmelir wird nächstes Jahr 60 Jahre alt. Über 40 Jahre hat er in Gefängnissen verbracht - er hat viel falsch gemacht, sagt er, aber er hat dafür gebüßt und er bereut und jetzt will er nur mehr raus, aus dem Gefängnis, aus seinem "Lebenslang".

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strafgerichtlich Verurteilte wurden im Vorjahr vom Bundespräsidenten im Rahmen der Weihnachtsamnestie begnadigt. Daneben werden in Österreich pro Jahr durchschnittlich 300 bis 400 Einzelbegnadigungen ausgesprochen. Die Begnadigungsabteilung des Justizministeriums bearbeitet die Gnadengesuche (rund 20 bis 30 pro Tag), untersucht diese auf Gnadengründe und Gnadenwürdigkeit. Bei positiver Entscheidung wird das Ansuchen an die Präsidentschaftskanzlei weitergeleitet.

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