Spritze - © Foto: Pixabay / Fercho Zhiminaicela

Gerd Gigerenzer: „Von der Evidenz lernen“

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Die Sehnsucht nach Gewissheit ist derzeit eines unserer größten Risiken, sagt Gerd Gigerenzer, Risikoforscher an der Universität Potsdam. Warum wir die Illusion der Sicherheit schleunigst loswerden sollten.

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Die Sehnsucht nach Gewissheit ist derzeit eines unserer größten Risiken, sagt Gerd Gigerenzer, Risikoforscher an der Universität Potsdam. Warum wir die Illusion der Sicherheit schleunigst loswerden sollten.

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Risikoforscher haben in Zeiten von Corona, Terror und weltweiten sozialen Unruhen viel zu tun. Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, erklärt, warum evidenzbasiertes Denken jetzt wichtiger ist denn je.

DIE FURCHE: In einem Interview mit der FURCHE aus dem Jahr 2014 sprechen Sie über die sich damals in Westafrika ausbreitende Ebola-Epidemie. Auch in Europa gab es in dieser Zeit die ersten Fälle von Ebola-Erkrankten. Doch Sie warnten vor einer übertriebenen Angst. Wie sehen Sie das heute mit Corona?
Gerd Gigerenzer: Im Unterschied zu Ebola hat uns diese Pandemie nun tatsächlich schwer getroffen. Das heißt, es ist ein realer Fall eines Schockrisikos. Ein Schockrisiko ist ein neues, unbekanntes Risiko, welches unerwartet eintritt und in kurzer Zeit viele Menschen treffen kann oder könnte. Ein klassisches Beispiel für ein Schockrisiko ist der 11. September 2001. Tausende von Menschen sind bei dem Terroranschlag auf das World Trade Center völlig unerwartet gestorben. Schockrisiken unterscheiden sich dadurch von berechenbaren Risiken, die sich über das Jahr verteilen und immer wieder kommen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass Sie oder ich bei einem Autounfall ums Leben kommen als bei einem Terroranschlag. Dennoch fürchtet sich kaum jemand davor, in ein Auto zu steigen. Auch die herkömmliche Grippe kehrt jedes Jahr wieder. Sie erfährt medial relativ wenig Aufmerksamkeit, obgleich sie durchwegs zu vielen Toten führen kann. In Deutschland gab es vor 2017/2018 geschätzt 25.000 Grippetote. Doch kaum jemand hat darüber gesprochen.

DIE FURCHE: Stichwort Aufmerksamkeit: Den Medien wurde zu Beginn der Corona-Krise häufig Panikmache vorgeworfen. Aber wie informiert man Menschen über eine Pandemie, ohne Panik auszulösen?
Gigerenzer: Medien sind oft nur auf eine Gefahr fixiert. Wenn Sie sich an die Berichterstattung über Vogelgrippe, Schweinegrippe, Ebola oder Rinderwahnsinn erinnern, entdecken Sie dieses Muster. Jede dieser Bedrohungen hat das Berichten über andere Gefahren verdrängt. Kaum war eine dieser Bedrohungen überstanden – wendete man sich der nächsten Gefahr zu. Doch eine gute Berichterstattung sollte verschiedene Risiken miteinander vergleichen und ins Verhältnis zueinander setzen. So lernen wir als Leser, Risiken und die Angst vor Corona besser einzuschätzen. Ein Beispiel: Viele Menschen in Europa sind in den vergangenen Monaten nicht ins Krankenhaus gegangen, weil sie sich vor einer Ansteckung mit Corona fürchteten, obwohl sie akute Beschwerden hatten. Eine Untersuchung an 310 Kliniken in Deutschland zeigte, dass etwa ein Drittel weniger Menschen mit Herzinfarkt und Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen sind als im Vorjahr. Wenn man in dieser Situation nicht rechtzeitig ins Krankenhaus geht, dann kann man das Leben verlieren. Dies ist ein Beispiel dafür, warum es wichtig ist, Risiken stets abzuwägen. Genauso bringen auch jene, die denken, sie seien gegen das Virus immun oder dass es gar nicht existiere, sich und uns alle in Gefahr.

DIE FURCHE: Risiko gehört zu unserem Leben, und manchmal ist es ja auch gut, ein Risiko einzugehen. Ab wann wird es problematisch?
Gigerenzer: Das erste Gebot von Risikokompetenz ist: Es gibt kein Null-Risiko. Die Illusion der Gewissheit sollte man schleunigst loswerden. Wir leben derzeit in einer Situation der Ungewissheit. Wir wissen nicht, wie es im Winter weitergeht, wir wissen nicht, was das nächste Jahr bringt und wann es einen wirksamen Impfstoff gibt. In dieser Situation lassen sich viele Menschen dazu verleiten, sich selbst Sicherheiten zu zimmern, die nicht existieren. Dieses Bedürfnis nach Gewissheit ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungstheorien, wo man genau weiß, dass die 5G- Mobilfunkmasten das Virus aktiviert haben oder Bill Gates den Impfstoff benutzen will, um uns allen einen Mikrochip zu injizieren, oder dass das US-Militär das Virus nach Wuhan eingeflogen hat. Das ist die erste Stufe der Risikokompetenz: Suchen Sie nicht nach Gewissheiten, wo es keine gibt. Und daraus folgt, dass man die Risiken erkennen und abschätzen muss. Und hier ist es wichtig, zwischen Risiken zu unterscheiden, die man berechnen kann, und jenen, wo dies nicht der Fall ist. Beim Autofahren können wir die Risiken berechnen, weil wir mit den Jahrzehnten viele Daten gesammelt haben. Bei der Corona-Pandemie ist dies wesentlich schwieriger.

DIE FURCHE: Kann die Suche nach Sicherheit also gefährlich werden?
Gigerenzer: Die Sehnsucht nach Gewissheit ist eines unserer größten Risiken. Manche suchen sie in der Astrologie, andere kaufen unnötige Versicherungen, und andere hassen Bevölkerungsgruppen, von denen sie genau wissen, dass sie der Grund allen Übels sind. Das Bedürfnis wird derzeit auch von Verschwörungstheoretikern bedient. Diese meinen zu wissen, wer hinter der Pandemie steckt, und meistens wird die Schuld für das Virus bei anderen Menschen oder Gruppen gesucht. Doch das ist mittelalterliches Denken. Im Mittelalter hat man die Pest auch nicht verstanden und deshalb andere verdächtigt, die diese herbeigeführt hätten, Juden, die die Brunnen vergiftet haben, oder Frauen, die als Hexen bezeichnet und verbrannt wurden. Dieses Denken gibt es immer noch. Wir sind vom Zeitalter der Aufklärung weit entfernt.

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