Geschädigte Patienten nicht nur abspeisen

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Die Ereignisse im Krankenhaus Freistadt werfen die Frage nach der Entschädigung von Patienten auf. In Österreich sind dafür die Gerichte zuständig. Sie prüfen, ob ärztliches Verschulden vorliegt. Dieses System sei unbefriedigend, meint Patientenrechtsexperte Johannes Pichler.

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Die Ereignisse im Krankenhaus Freistadt werfen die Frage nach der Entschädigung von Patienten auf. In Österreich sind dafür die Gerichte zuständig. Sie prüfen, ob ärztliches Verschulden vorliegt. Dieses System sei unbefriedigend, meint Patientenrechtsexperte Johannes Pichler.

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dieFurche: Sie haben schon öfters öffentlich Kritik geübt an der Art und Weise, wie Personen, die durch ärztliche Behandlung zu Schaden gekommen sind, in Österreich entschädigt werden. Welche Vorgangsweise schiene Ihnen angemessen?

Johannes Pichler: Es geht um ein Entschädigungssystem, das nicht nur bei ärztlichem Verschulden zum Tragen kommt. Dazu ist folgendes zu sagen. Die Rechtsordnungen in Europa verlangen, damit es zu einer Entschädigung kommt erstens, daß wirklich ein Schaden eingetreten ist, und zweitens, daß jemand einem anderen diesen Schaden schuldhaft zugefügt hat. Ist das zweite Element nicht dabei, dann ist es ein sogenannter Eigenschaden, wie ein Unfall. Eben Pech gehabt. Gegen diese Rechtslage habe ich nichts. Sie soll beibehalten werden. Nur im Medizinwesen funktioniert das nicht. Das erleben wir in Freistadt - und Freistadt ist austauschbar, ähnliches kann morgen in Oberpullendorf oder Innsbruck passieren.

dieFurche: Warum sollte die Medizin eine Ausnahme machen?

Pichler: Erstens, weil die meisten Menschen von der Hochleistungsmedizin profitieren und nur ganz wenige die Verlierer, sprich Geschädigte, sind. Zwischen diesen Gruppen den Ausgleich anzusiedeln, wäre nur gerecht. Und zweitens, wenn es um die Schädigung von Personen geht, ist die Auseinandersetzung über ein Verschulden ein sehr emotionsgeladener Prozeß. Da kommen dann Rachegefühle dazu, obwohl der Verursacher möglicherweise gar nichts besonders Rechtswidriges begangen hat. Es ist ihm eben etwas passiert, wie es uns tausendmal bei anderen Gelegenheiten passiert. Eine Kleinigkeit wird übersehen und die Folgen sind katastrophal. Dann kommt es zur Suche nach dem Fehler und zur Beweislastumkehr. Für den Arzt besonders schlimm. Denn zu beweisen, daß etwas nicht geschehen ist, nennen wir Juristen einen "teuflischen Beweis". In diesem sensiblen System zwischen Patienten und Ärzten ist entweder der Patient oder der Arzt der Blöde. Es sei denn man schafft eine Konstruktion, die dafür sorgt, daß der potentielle Verursacher die Prämie bedient, damit aber aus dem Spiel draußen ist ...

dieFurche: Sind also in Ihrem System nicht wie bisher die Ärzte versichert, sondern die Patienten, wobei allerdings die Ärzte für die Prämien aufkommen?

Pichler: Die Prämien zahlen die potentiellen Verursacher, die Krankenhäuser, die Ärzte. Versichert sind alle, die geschädigt sein könnten, also jeder Patient - automatisch mit dem Eintreten in ein Behandlungsverhältnis.

dieFurche: Sollten private Versicherungen ein solches System betreuen?

Pichler: Versichert wären die Patienten bei einem Konsortium vorhandener großer Versicherungen. In Schweden sind es die vier größten Versicherungen, von denen zwei die Schadensabwicklung übernehmen.

dieFurche: Was würde das für Österreich kosten?

Pichler: In der ganzen westlichen Welt hat sich folgendes gezeigt: Entschädigt man den Patienten nach Verschuldensgesichtspunkten, dann muß man in einem Land von der Größe Österreichs mit Kosten von 300 Millionen Schilling rechnen. Bei verschuldensunabhängiger Entschädigung - wenn ich also auch alle jene Fälle miteinbeziehe, denen es nicht gelingt das Verschulden von Arzt oder Krankenhaus nachzuweisen - komme ich auf den doppelten Betrag. Dementsprechend schätzt der Vorsitzende der Haftpflichtsektion der Versicherungsunternehmen, daß eine saubere, verschuldensunabhängige Patientenentschädigung für Österreich 400 bis 600 Millionen Schilling kosten würde.

dieFurche: Angenommen Österreich stiege auf ihr System um. Warum sollten Patienten dann leichter zu ihrem Recht kommen?

Pichler: Weil Arzt und Patient nicht mehr Gegner sind. Der Verhandlungspartner des Geschädigten wäre in Zukunft seine Versicherung.

dieFurche: Und das soll eine wirkliche Verbesserung sein?

Pichler: Ja. Weil ja die Verschuldensfrage nicht mehr erörtert wird. Die wirklich strittige Zone ist damit vom Tisch. Seien wir ehrlich: Heute spießt es sich ja nicht bei den Versicherungen, sondern beim Arzt. Denn wenn ein Haftungsprozeß durch die Medien geht, so ist das entsetzlich stigmatisierend. Sie werden das in der Freistädter Causa sehen. Da wird alles bestritten werden, alles, dem Grund und der Höhe nach. Und die Chancen, daß die Anwälte damit durchkommen, sind nicht so schlecht.

dieFurche: Die Ärzte haben aber auch im Versicherungssystem einen Ruf zu verteidigen.

Pichler: Hier geht es nicht mehr um ärztliches Verschulden, sondern um eine Beziehung zwischen ärztlichem Handeln und Auftreten von Schäden. Nur in der Verschuldensfrage kommt es zum Mauern. Die Medien behaupten stets, unter den Ärzten hacke eine Krähe der anderen kein Auge aus. Das stimmt nicht, denn für ein Medizin-Gutachten ist es enorm schwierig, sich mit der von der Rechtsordnung verlangten Sicherheit eindeutig darauf festzulegen, daß in einem bestimmten Fall ein Fehler begangen worden sei. In der Medizin geht es um so komplexe Fragestellungen. Das ist etwas anderes als beim Rohre-Verlegen. Aus wissenschaftlicher Redlichkeit heraus, wird der Sachverständige sehr vorsichtig sein. Das ist keine Kumpanei. Muß der Sachverständige aber nur die Kausalität feststellen, so gibt es kein Problem. Es genügt, einen Zusammenhang zwischen Behandlung und negativem Ergebnis festzustellen. Ob ärztliches Verschulden vorliegt, wird ja nicht geprüft. Eines sei noch hinzugefügt: Die "Harvard Medical Practice Study" - da wurden 30.000 Fälle untersucht - sagt, es gebe 3,7 Prozent nicht verschuldete Schädigungen und nur ein Prozent Fälle von ärztlichem Verschulden. Nur ein Prozent ist also nach herkömmlichen Gesichtspunkten als klares Verschulden gegeben. Aber da sind die anderen 3,7 Prozent!

dieFurche: Verführt Ihr System die Ärzte nicht zur Leichtfertigkeit?

Pichler: Das Argument, daß die Ärzte plötzlich leichtfertig an den Patienten herumfuhrwerken, stimmt nicht. In den Systemen, die auf dieses Modell umgestiegen sind, ist dies nicht eingetreten - weil die Ärzte ja nach wie vor strafrechtlich belangbar bleiben. Sorglos daraufloszuarbeiten, kann sich kein Arzt der Welt - auch nicht mit dem schönsten Versicherungssystem - erlauben. Aber ich kann den Arzt zivilrechtlich entlasten, von der Alltagsangst, die Patienten könnten sich schon im vorhinein überlegen, wie sie nachher zu einem Schadenersatz kommen könnten. In all den Systemen, die wir in Skandinavien haben, ist der Arzt nicht mehr der Beklagte, sondern einfach ein Zeuge in dem Verfahren. Er kann schon bei der Aufarbeitung des Problems mitarbeiten, seine Sicht des Problems darlegen. Er kann einbekennen, daß möglicherweise eine andere Methode eher gegriffen hätte, daß man in der entscheidenden Sekunde möglicherweise einen anderen Schnitt hätte setzen können ... Es passiert ihm deswegen nichts. Passiert ihm das allerdings zwanzigmal, so mag es dienstrechtliche Folgen haben ... Jedenfalls fehlt die Konfrontation zwischen Arzt und Patient.

dieFurche: Wie wird ein Schadensfall in diesem System abgewickelt?

Pichler: Das Krankenhaus muß den Patienten über die Existenz der Patientenversicherung informieren. Fühlt sich nun ein Patient geschädigt, so wird in einem einseitigen A-4-Formular eingetragen, wann, wo, was vermeintlich oder wirklich passiert ist. Um die Angelegenheit zu beurteilen, arbeiten die skandinavischen Modelle mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeitsvermutung. Wenn die von der Regierung ernannte Schadenskommission zu dem Ergebnis kommt, daß mit mehr als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit eine Kausalität zwischen Schaden und ärztlichem Handeln besteht, wird entschädigt. Dabei kommt es auch keineswegs zu endlosen Verfahren. Die Verfahrensdauer beträgt in Skandinavien maximal zwei Monate.

dieFurche: Wenn das so einfach geht, weckt man da nicht enorme Begehrlichkeiten?

Pichler: Nein. Es stellen pro Jahr in Schweden (mit acht Millionen Einwohnern) 5.000 bis 5.500 Personen einen Antrag. In 2.500 bis 3.000 Fällen wird zugestanden, daß etwas passiert ist. Daß es sich wirklich um einen Schaden handelt, wird sehr genau geprüft.

dieFurche: Können wir uns eine weitere Verteuerung des medizinischen Systems leisten?

Pichler: Das vorgeschlagene System ist auch wirtschaftlich sinnvoll. Damit schneide ich ein Thema an, über das in Österreich nie geredet wird: Im medizinischen Betrieb entstehen zwischen 15 und 30 Prozent der Kosten dadurch, daß sich die Ärzte im Verschuldenssystem defensiv verhalten. Das bedeutet Überdiagnostik, Übertherapie, aber auch Untertherapie, indem man Patienten weiterschickt, weil der Arzt sich denkt, das sei ihm zu kompliziert. Man kann also davon ausgehen, daß Haftungsängste unnötige Kosten verursachen.

dieFurche: In Wien gibt es einen Härtefonds für geschädigte Patienten. Reicht das nicht?

Pichler: Wenn ich nicht mehr als 300.000 Schilling pro Fall geben kann, dann kann ich mit diesen Härtefonds-Geldern nicht viel mehr machen, als Beschwichtigung zu betreiben. Sie müssen bedenken, daß ein einziger Fall, der letztes Jahr in Österreich judiziert worden ist (ein Kind wurde bei der Geburt nachhaltig geschädigt), in erster Instanz einen Betrag von 15 Millionen Schilling als Schadenersatz festgelegt hat. Und dann stellen Sie sich vor: Wien hat acht Millionen im Härtefonds für eine Bevölkerung von 1,5 Millionen! Da gibt man den Patienten zwar vielleicht geschwind etwas, aber zu wenig. Wenn es mir gelingt, einen Patienten, dem wirklich etwas passiert ist, mit 50.000 bis 100.000 Schilling wegzuschicken, dann habe ich den entsetzlich abgespeist. Patienten wissen ja oft gar nicht, was ihnen passiert ist. Das ist in der Literatur völlig klargestellt: Patienten sind sehr schnell bereit, sich einreden zu lassen, es handle sich bei ihrem Schadensproblem um eine normale Komplikation.

Univ. Prof. Johannes W. Pichler ist Direktor des Österreichischen Instituts für Rechtspolitik. Mit ihm sprach Christof Gaspari.

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