Es ist schon interessant, womit sich Menschen beschäftigen können. Vergangenen Freitagabend ist etwa in der Freundesrunde die Frage aufgepoppt, ob "Nena" tatsächlich schon 60 sei. Reflexhaft hätte man wohl Dr. Google befragt, doch die Lehrerin der Runde hatte die Smartphones schon zu einem "Handyturm" gestapelt. Ein Exzess pädagogischer Korrektheit, den ich gern auf Facebook oder Twitter dokumentiert hätte. Aber weil das dafür nötige Gerät nicht zur Verfügung stand, musste ich weiter über Nenas Alterslosigkeit diskutieren.
Man kann das ziemlich lange tun. Ein konkretes Gesicht, ein konkreter Mensch, ein konkretes Leben: So etwas fesselt nicht nur kleine Freundesrunden, sondern auch die große Öffentlichkeit. Wie sehr das Schicksal eines einzelnen Menschen die Welt bewegen kann, zeigt der Fall des zweijährigen Julen aus Spanien. Würde man diese Geschichte noch näher an sich heranlassen, würde man sich noch intensiver einfühlen in die Eltern dieses Buben, den ein tiefer Schacht verschluckte -man würde wohl durchdrehen. Doch auch so reichen die Berichte aus, um betroffen zu sein.
Diese globale Anteilnahme hat auch den Kleinen beschäftigt -und vor eine wichtige Frage gestellt: Warum denken alle an dieses eine Kind und nicht an die vielen anderen, die in Not sind oder sterben müssen? Es ist ihre Anonymität, habe ich ihm zu erklären versucht, ja gerade ihre unfassbare Zahl. 120 namenlose Flüchtlinge, die vergangenen Freitag vor der libyschen Küste ertrunken sind, rütteln weniger auf als jener 14-Jährige aus Mali, dessen Leiche ein Jahr nach seinem Tod mit einem eingenähten Schulzeugnis aus dem Mittelmeer geborgen wurde. Im Buch "Naufraghi senza volto" (Schiffbrüchige ohne Gesicht) wäre sie nachzulesen. Man müsste nur kurz das Handy beiseite legen, Nena in Würde altern lassen und der Welt da draußen ins Antlitz schauen.
Je stürmischer der Fortschritt fortschreitet, um so wichtiger wird bei dem Wort "Unterricht" der erste Bestandteil: "Unter". [] Und wenn man die Aktivitäten der Systemveränderer betrachtet, ahnt man, daß der statische Begriff "Unterricht" bald von einem dynamischen "Hinunterricht" abgelöst werden wird.
Die Hinunterrichtsexperten sind für Chancengleichheit. Sie wollen aller Welt den Zugang zur Bildung eröffnen. Der Begabte darf nicht mehr privilegiert sein. Der Unbegabte darf nicht mehr benachteiligt werden. Die Gepflogenheit, daß Schüler, die das Lernziel einer Klasse nicht erreichen, diese Klasse wiederholen müssen, ist ein Relikt spätbürgerlicher Repression. Weg damit! [ ]
Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die planifizierte Gesamtschule. Am Ende steht als Fernziel die klassenlose Schule. In dieser Schule gibt es auf Grund der neuen Hinunter-Richtlinien keinen Klassenunterschied mehr zwischen den Sechsjährigen und den Vierzehnjährigen.
Die Schule soll nicht, wie bisher, allzu wenigen Bildungschancen geben. Sie soll immer mehr Schülern immer mehr Chancen geben, ohne Unterschied des Alters und der Klasse, bis schließlich alle Schüler gleiche Chancen haben. Und das ist nur erreichbar, wenn die verschiedenen Bildungswege einander progressiv angeglichen werden, so daß schließlich der Einbildungsweg verwirklicht ist. Nr. 4 /24. Jänner 1979
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