Gestern Schnecken, morgen Cyborgs

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Das menschliche Gehirn ist nicht annähernd erforscht. Entsprechend groß sind die Erwartungen der Neurowissenschafter - und die Ängste der europäischen Bürgerinnen und Bürger.

Es ist weich, wiegt zwischen 1245 und 1375 Gramm, fasst rund 1012 (also eine Billion) Nervenzellen, von denen jede einzelne über Synapsen mit bis zu 15.000 anderen verbunden ist - und zeigt sich viel plastischer, als bisher vermutet: das menschliche Gehirn. Betrachtet man den Output dieses Organs, so verwundert seine Komplexität kein bisschen: Schließlich ist es gleichermaßen für Denken, Gedächtnis, Lernen, Bewusstheit, Träume und die Steuerung sämtlicher Körperfunktionen zuständig. Entsprechend zahlreich sind die Disziplinen, die sich mit dem Gehirn befassen - und die in den vergangenen Tagen beim "5. Forum der Föderation der europäischen neurowissenschaftlichen Gesellschaften" (FENS) vertreten waren. Rund 5000 Wissenschafterinnen und Wissenschafter - Biochemiker, Mediziner, Psychologen, Pharmakologen, Sprach-und Verhaltensforscher, Philosophen und Informatiker - tauschten im Austria Center Vienna ihre neuesten Erkenntnisse und Visionen aus.

Homo Roboticus?

Es sei im Rahmen der Tagung endlich gelungen, "Hardware-Spezialisten" wie Neurologen und "Software-Experten" wie Psychologen an einen Tisch zu bringen, meinte der Wiener Psychoanalytiker August Ruhs (siehe auch unten). Sein Bezug auf die Welt der Maschinen und Computer kommt nicht von ungefähr: Schon jetzt ist es nach Aussage des Bochumer Neurobiologen Klaus-Peter Hoffmann möglich, mit Gedankenkraft Roboterarme zu bedienen oder mit einem EEG (Elektroenzephalogramm) Intentionen im Gehirn abzulesen. Implantate im Kopf seien in der Lage, über einen "Stecker auf der Schädeloberfläche" Kontakt zu Computern aufzunehmen und Maschinen mit der Kraft des Geistes zu steuern.

Auch wenn deswegen noch lange kein "Homo Roboticus" heraufdräut, wie ihn der Futurologe Ian Pearson von der British Telecom in 200 Jahren voraussagt: Die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Mensch und Maschine schreiten voran. So hat der Deutsche Peter Fromhertz gezeigt, dass Gehirnzellen auf integrierten Schaltkreisen gezüchtet werden können. Bald werde es auch künstliche Netzhäute geben, prophezeit die britische Hirnforscherin Baroness Susan A. Greenfield in ihrem Beitrag mit dem (beruhigenden) Titel "Auch Cyborgs leben nicht ewig", den sie im Rahmen der Reihe "Peace vermutet" - eine Initiative von "25 Peaces" und Presse - verfasst hat. Auch wenn es möglich werden sollte, Parkinson-Patienten mit Gehirn-Implantaten vom Zittern zu erlösen, so tauge dieser Fortschritt nach Meinung Greenfields doch nicht für den Alltag: "Die Hirnchirurgie ist unangenehm, risikoreich und teuer", weiß die Hirnforscherin. "Es wird nur wenige geben, die sich freiwillig Gehirn-Implantate einsetzen lassen; nicht zuletzt deshalb, weil der Großteil der Information von Bildschirmen und durch Rechenprozesse abrufbar sein wird, so dass die Menschen nicht mehr Informationen zu speichern brauchen."

Cyborgs, also Mischwesen aus Mensch und Maschine, werden demnach noch auf sich warten lassen: Schließlich lässt das menschliche Gehirn mit seiner unnachahmlichen Plastizität und Gedächtnisleistung das plumpe Downloaden von Erinnerungen auf Speicherchips alt aussehen.

Lernen mit Aplysia

Was genau im Hirn beim Lernen und Erinnern passiert, hat FENS-Gast Eric Kandel entdeckt. Bereits 1965 hatte er mit seinen Untersuchungen am simplen Gehirn der Meeresschnecke Aplysia Californica für Aufsehen gesorgt. Später weitete er das Aplysia-System auf Wirbeltiere aus - und machte bahnbrechende Entdeckungen über die Signalübertragung im Nervensystem. 2000 erhielt er dafür mit Arvid Carlsson und Paul Greengard den Nobelpreis für Medizin und Physiologie.

Die Visionen des heute 77-Jährigen sind kühn: Eine neue "Biologie des Geistes", in der Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse mit den modernen Neurowissenschaften verschmelzen, soll selbst unbewusste Prozesse erforschbar machen. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren wie der Positronen-Emissionstomografie (PET) oder der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) soll auch der Einsatz von Psychopharmaka und die Wirkung von Psychotherapien überprüft werden können (siehe unten).

Aktivitätszentren im Gehirn sichtbar zu machen heißt freilich nicht, auch die dahinter liegenden Prozesse zu verstehen, wissen Kandl und seine Kollegen. "Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er verschiedene Aufgaben arbeitet", heißt es in einem Manifest, das elf führende Neurowissenschafter (darunter Gerhard Roth und Wolf Singer) im Jahr 2004 publizierten.

"Meeting of Minds"

Die Herausforderungen für die Neurowissenschaften bleiben also groß - wie ihre Verantwortung. Um auch die Betroffenen einzubeziehen, wurde 2004 von der belgischen König Baudouin-Stiftung mit Unterstützung der Europäischen Kommission die Initative "Meeting of Minds" gegründet. 126 Bürgerinnen und Bürger aus neun europäischen Ländern haben sich intensiv mit Chancen und Risken der Hirnforschung befasst - und dem Europäischen Parlament im Jänner dieses Jahres 37 Empfehlungen überreicht: Die Einrichtung europaweiter Ethik-Komitees findet sich ebenso darunter wie die Warnung vor einem Missbrauch von Brain Imaging durch Polizei und Justiz. Eine Empfehlung für oder gegen die umstrittene embryonale Stammzelltherapie, die dereinst zerstörte Hirnstrukturen "reparieren" soll und deren Beforschung im Rahmen des siebten EU-Rahmenprogramms gefördert wird, findet sich nicht: "In diesem Punkt", meint der Brite Tom Ziessen im Austria Center Vienna, "haben wir eben keine Mehrheit gefunden."

Infos: www.meetingmindseurope.org

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