"Gib ihnen eine Chance"

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Drogensucht, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Abtreibung, Lieblosigkeit... Wie kann dieser vielfache Teufelkreis durchbrochen werden? Eine junge Ärztin über ihren persönlichen Werdegang.

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Drogensucht, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Abtreibung, Lieblosigkeit... Wie kann dieser vielfache Teufelkreis durchbrochen werden? Eine junge Ärztin über ihren persönlichen Werdegang.

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Ich arbeite an einem Tag der Woche unentgeltlich im Lebenszentrum im 1. Bezirk und bin, wenn es sich ausgeht, an einem Wochenende bei den Gebetsvigilen in Wien oder Graz dabei - als Demutsübung sozusagen. Nicht immer war ich motiviert, vor der Öffentlichkeit auf der Straße zu knien und die Arbeit im Lebenszentrum mitzutragen - und das hat folgenden Grund: Ich habe Medizin studiert, bin fast am Ende meiner Turnustätigkeit in einem Schwerpunktkrankenhaus und mache nebenbei eine Ausbildung in Psychotherapie. Seit Anfang meines Studiums wollte ich eine Ausbildung in Kinderpsychiatrie machen und habe deshalb sowohl in Österreich als auch in Amerika in meiner Freizeit gelegentlich mit Süchtigen, arbeits- und obdachlosen oder irgendwie abgeschobenen Jugendlichen zu tun gehabt. Unter ihnen waren auch ungewollt Schwangere. Die meisten dieser Kinder hatten nie erfahren, was es heißt, gewollt und angenommen zu sein, von einem Zuhause ganz zu schweigen. Andere hatten ein Zuhause, sogar mit Swimmingpool und drei abgetriebenen Geschwistern und hatten nie wirklich herausgefunden, welchem Zufall sie es verdanken, daß sie lebten. Ich habe viel gehört und gesehen in diesen Tagen, auch junge Frauen, stöhnend oder bereits tot in der öffentlichen Toilette, durch einen Schuß Heroin zu viel oder verblutet, nach einer selbst vorgenommenen Abtreibung oder durch unprofessionelle Hilfe.

Ich bekam von Freunden und Kollegen viel Anerkennung für meinen Einsatz, schließlich ist es nett, sich als angehende Ärztin auch sozial zu engagieren. Das war auch noch so, als mein Tun - zunächst getrieben aus sozialpolitischer Sichtweise - durch meine persönliche Bekehrung mehr und mehr geprägt wurde und ich mir wünschte, daß mein Einsatz Zeugnis für meine Gotteserfahrung werde. Zu dieser Zeit stand ich im Rahmen meiner Ausbildung und Selbstfindung vormittags am Seziertisch in der Pathologie Wiens und dachte laut über die Würde des vor mir liegenden Menschen und über Leben und Sterben nach. Damals hatte ich noch keine Nachtdienste und daher abends Zeit, mich, im Rahmen der damals mehr und mehr in Österreich entstehenden Hospizbewegung, ein wenig für eine würdevolle Lebensbegleitung eines Sterbenden einzusetzen. In meinem (vorwiegend nichtreligiösen) Umkreis galt ich mit meinem strikten Nein zur aktiven Euthanasie ein bißchen schräg, so nach dem Motto, wie es ein engagierter und sehr im Glauben gefestigter Kollege formulierte: "Der eine spielt Golf, und der andere ist halt ein bißchen theophil."

Sicher gab es auch Anerkennung und ich weiß nicht, was mich mehr antrieb, Anwalt der Benachteiligten sein zu wollen, Lorbeeren oder Theophilie. Eines weiß ich aber sicher: Bei allem Einsatz gegen aktive Tötung am Lebensende hätte ich nie den Mut gehabt, mich für das Leben am Anfang - von der Empfängnis an - einzusetzen. Das war mir einfach zu heiß, da wollte ich mir nicht die Finger verbrennen. Seit ich im Lebenszentrum arbeite, weiß ich auch warum: Die Zeit der Lorbeeren ist vorbei, dafür ernte ich jetzt Unverständnis und jede Menge der immer gleichen Argumente: "Keine Frau geht gerne abtreiben, man soll ihr den Schritt nicht noch erschweren! Es ist Angelegenheit der Frau, das muß sie selber wissen! Besser die Frau holt sich sachgerechte Hilfe, als sie geht zu einer ,Engelmacherin' oder macht es sich selber. Kümmerst du dich um das Kind, wenn es erst einmal da ist und die nächsten zwanzig Jahre? Besser abgetrieben als später mißhandelt oder drogensüchtig!"

Arbeit mit "Wahnsinnigen" Ich kenne diese Argumente gut, ich hatte selbst so argumentiert - vor meiner Mitarbeit im Zentrum. Ich arbeitete ursprünglich nur mit, um diesen "Wahnsinnigen", wie ich die Mitarbeiter des Zentrums nannte, eine Chance zu geben, meine durch den Spott der Medien beeinflußte Meinung über sie zu ändern. Nach wenigen Wochen galt mein impulsiv geäußertes "Gib ihnen eine Chance" nicht mehr den Mitarbeitern, sondern den Schwangeren in Notsituation. "Gib ihnen eine Chance, Herr" wurde mein Gebet, durch diese Schwangerschaft auszubrechen aus den Verstrickungen aus Drogensucht, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und so schmerzhaft erlebter Lieblosigkeit. Keine Frau geht gerne abtreiben, Herr, laß nicht zu, daß durch diese Abtreibung der ganze Haufen von Problemen wieder nur zugedeckt wird und sich nichts ändern kann, weil es zu weh tut hinzuschauen. Lassen wir nicht zu, daß eine Frau mit einer tristen Lebensgeschichte in der Zeit, in der sie durch die hormonelle Umstellung in ihrem psychischen Erleben Achterbahn fährt, mit der zynischen Bemerkung, daß sie ausgerechnet jetzt selber wissen müsse was sie tut, im Stich gelassen wird. Kein Mensch kann unter solchem Druck mit tickender Uhr im Nacken eine Entscheidung fällen, er kann bestenfalls zu einer Entscheidung genötigt werden.

"Gib ihnen eine Chance" und laß uns gemeinsam den Haufen ihrer Probleme zerlegen und ein Problem nach dem anderen ansehen, beweinen, jenen, die im Lauf des Lebens an der Frau schuldig geworden sind, zu vergeben und als Geschenk der Schöpfung liebzuhaben. Für viele klingt das wie eine Illusion. Und doch ist es weniger illusorisch als das Märchen, daß nach der Abtreibung alles vorüber ist. Wie viele Frauen fühlen sich oft Jahre später schuldig oder haben psychosomatische Beschwerden, die weder internistisch noch chirurgisch zu heilen sind. Die Abtreibung wird von unserer Gesellschaft und unseren Politikern als Beruhigungszuckerl verkauft, weil sie im Moment billiger ist als eine Wohnmöglichkeit und ein Karenzgeldanspruch oder gar eine heilende Therapie. Dabei wird die Frau genötigt und das PAS-Syndrom als lächerlich abgewertet. Es gibt viele Therapieeinrichtungen und viele medizinische Disziplinen.

In der ärztlichen Kunst geschieht Heilung und Schmerzlinderung oftmals durch Begleitung. Es ist kein Zufall, daß nur die Chirurgie es sich in einem gewissen Ausmaß (nämlich je kleiner der Eingriff, um so eher) leisten kann, nicht zu begleiten. Bei diesem kleinen Eingriff aber wird getötet, während 50 Meter weiter - unter der Begleitung von Priestern, Ärzten, Psychologen und Pädagogen, die den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Psyche betrachten - bei uns im Zentrum Heilung "passieren" könnte. Heilung ist besser als Tötung und das ist der Grund, warum es wichtig ist, dort zu stehen und der Mutter und dem Vater (oder der sie begleitenden Freundin) den Zettel in die Hand zu geben. Es gibt auch Heilung und Vergebung danach, für Gott ist kein Scherbenhaufen zu groß, und auch wir haben kein Recht, eine Frau oder ärztliches Personal zu verurteilen. Für uns gilt streng der Grundsatz: Immer ja zum Täter und zum Opfer, aber striktes Nein zur Tat. Ich könnte als Ärztin mit jus practicandi und als Frau in drei Monaten beides sein: Täter und Opfer und habe für beide tiefstes Verständnis.

Ich kenne die Zerrissenheit der ärztlichen Seite, ich bin selber oft von Sterbenden angefleht worden, ihnen zu helfen. Ich habe mich mit Gottes Hilfe entschieden, zu begleiten, wo ich als Mensch versucht gewesen wäre zu töten und genügend Argumente gefunden hätte, mich zu rechtfertigen. Als Frau habe ich viele Nöte in eigener Erfahrung, und durch Begleitung von Frauen in Grenzsituationen durchlitten, und weiß, daß nur durch einfühlsame Begleitung Heilung der seelisch-psychisch und körperlichen Krankheiten und Kränkungen erfolgen konnte. Weil ich einerseits die Zerrissenheit der Ärzte und der mit "lauteren Motiven" im Abtreibungsgeschäft involvierten Personen um die Not der Frauen, und die Gefühlskälte des Gesetzgebers und unserer Gesellschaft andererseits kenne, bitte ich stellvertretend für das Kind, das weder Mutter, Vater, Freundin, Arbeit- oder Gesetzgeber noch Ärzten oder unseren Mitarbeitern im Lebenszentrum gehört: "Gebt mir eine Chance!"

Ich maße mir nicht an, in den zwölf Wochen der Abtreibungsfrist die Fragen der nächsten 20 Jahre bezüglich der Entwicklung des Kindes zu lösen, aber ich weiß, daß wir kein Recht zu töten haben, weder jetzt, noch im fünfzehnten Lebensjahr des Kindes, wenn es die ersten Alkoholexzesse liefert.

Viele würden sofort ein Kind adoptieren Noch einmal: Die Tat bleibt die gleiche, nur ist die Reaktion der Gesellschaft und des Gesetzgebers eine andere, was banal ausgedrückt eine Nervenfrage ist, wie der Vollzug der Todesstrafe in einigen Ländern dieser Welt zeigt. Diese Bemerkung ist nicht so zynisch gemeint, wie diesbezügliche Gegenargumente der Abtreibungsbefürworter. Gib mir eine Chance könnte auch heißen, laß mir Zeit bis 15 und ich werde nicht trinken, oder gib mich frei zur Adoption, weißt Du wie viele Menschen im Zentrum anrufen und sofort ein Kind adoptieren würden, egal ob körperlich oder geistig behindert, schwarz oder weiß. Wir wissen nichts über die Zukunft dieses Kindes, aber wir verbauen ihm alles, wenn wir glauben, ihm und der Mutter Gutes zu tun indem wir es töten.

Diese Erkenntnis zu erlangen bedeutet viel Auseinandersetzung und Schmerz. Sie ist auch unbequem, weil nach ihrer Erlangung viel geändert werden müßte. Es ist eine Frage, ob uns das die Schwangeren und die Kinder wert sind. Mein Gott sagt mir: Du sollst nicht töten. Meine Gesellschaft und mein Berufsstand drücken da aus unterschiedlichen Motivationsgründen ein Auge zu.

Das ist das Dilemma, in dem ich lebe. Dafür kann ich mich schon einmal öffentlich verspotten lassen, als Demutsübung, sozusagen.

Die Autorin ist Turnusärztin im Krankenhaus Mistelbach (NÖ) und macht derzeit eine psychotherapeutische Ausbildung.

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