Gier, mörderisch alltäglich

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Gier gilt als Kavaliersdelikt. Doch wie die Gewalt ist sie eine inakzeptable Verhaltensform mit potenziell fatalen Konsequenzen. Bringen wir sie endlich auf die Agenda.

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Gier gilt als Kavaliersdelikt. Doch wie die Gewalt ist sie eine inakzeptable Verhaltensform mit potenziell fatalen Konsequenzen. Bringen wir sie endlich auf die Agenda.

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Drei bemerkenswerte Episoden aus dem Frühsommer: Kürzlich ist bekannt geworden, dass der Fußballstar Cristiano Ronaldo in Spanien 14,7 Millionen Euro an Steuern hinterzogen haben soll. Laut Forbes-Report hat er in den letzten zwölf Monaten circa 83 Millionen Euro eingenommen. Sein ständiger Mitbewerber um den Titel "bester Fußballer der Welt", Lionel Messi (Jahreseinkommen geschätzt 70 Millionen Euro), ist bereits im Mai wegen Steuerbetrugs in der Höhe von 4,1 Millionen Euro in letzter Instanz verurteilt worden. Die zwei Besten im Spitzenfußball sind hier keine Einzeltäter, vielleicht nur die Spitze des Eisbergs.

In Großbritannien sind nach dem verheerenden Brand des Grenfell Towers, bei dem laut heutigem Stand 80 Menschen ums Leben gekommen sind, bereits 160 Hochhäuser mit gefährlichen Fassadenverkleidungen entdeckt worden. Kommentatoren haben zuletzt darauf hingewiesen, dass das tragische Ereignis einem System geschuldet ist, bei dem Deregulierung und fahrlässige Kostenersparnis zu mangelndem Brandschutz geführt haben.

Und in Ungarn stehen derzeit jene Schlepper vor Gericht, in deren Lkw im August 2015 alle 71 transportierten Flüchtlinge erstickt sind. Bei den Einvernahmen hat ein Angeklagter das Flüchtlingsdrama folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Wir sitzen alle hier, weil er (Anm.: der Bandenboss) gierig geworden ist."

Menschliches, allzu Menschliches

Drei Episoden, die so gut wie nichts miteinander verbindet. Nichts, außer eine bestimmte Form der geistigen Energie: Gier. Im ersten Fall eine Gier auf Kosten des Gemeinwesens, im zweiten Fall Gier auf Kosten der allgemeinen Sicherheit, im dritten Fall Gier auf Kosten von Menschen, deren Todesurteil es war, sich einer skrupellosen Schlepperbande anzuvertrauen. Fall zwei und drei zeigen sonnenklar: Gier kann tödlich sein, Gier geht sogar über Leichen. Dennoch wird diese verhängnisvolle geistige Dynamik nur selten beim Namen genannt. Warum herrscht bei diesem Thema fast betretenes Schweigen?

Zwei Gründe sind hier wohl ausschlaggebend: Einerseits ist die Gier - mit Nietzsche - eine menschliche, allzu menschliche Eigenschaft. Kein Mensch ist frei von ihr, und zumindest in ihren subtileren Schattierungen ist sie seit jeher Teil unseres Alltags - auch wenn es sich dabei nur um den Griff in die Keksdose oder Naschlade handelt, bei dem außer dem erträumten Idealgewicht niemand zu Schaden kommt. Andererseits ist die Gier nur schwer von jenen Antrieben zu trennen, die der Motor unseres ganzen Wirtschaftssystems sind: der Wunsch, etwas zu schaffen und zu erreichen, Ehrgeiz und Motivation, Ambition und Aspiration. Doch die Grenze verläuft in etwa dort, wo zwischen Maß und Unmäßigkeit zu differenzieren ist. Während gesunde Ambitionen stets auch auf höhere Ziele ausgerichtet sind, erwächst die Gier aus rein egoistischen Motiven.

Wegschauen ist gefährlich

Wer heute für abendländische und christliche Werte eintritt, sollte zuvorderst die Gier ins Visier nehmen. Schon in der Antike warnte Platon vor der unersättlichen Begierde und verglich den Menschen mit einem Fass ohne Boden, das sich nie wirklich füllen lässt. In der christlichen Tradition gilt die Gier als eine von sieben "Todsünden". Wenn eine dieser Sünden tatsächlich imstande ist, die Menschheit an den Rand des Abgrunds zu treiben, dann ist das vor allem die Gier. Wegschauen wäre gefährlich. Die Gier muss zum Thema werden, in Politik und Medien, Wirtschaft und Gesellschaft, schon in der Schule.

Der bewusste Blick auf die Gier ist der erste Schritt zu ihrer Entschärfung. Es wäre dabei hilfreich, den dadurch verursachten Schaden zu berechnen, so wie sich etwa der Verlust an Biodiversität in ökonomischen Kennzahlen veranschaulichen lässt. Man stelle sich nur vor, wie viele Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser man allein mit den Steuerschulden prominenter Fußballer errichten und erhalten könnte.

martin.tauss@furche.at

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