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Seit dem spektakulären Scheitern des "Sinai-Projekts" im April 2001 ist Erlebnispädagogik mit verhaltensauffälligen Jugendlichen umstritten. In Vorarlberg beschreitet man indes neue Wege.

Die Wüste liegt auf Eis", meint die Pressedame lakonisch. Noch, fügt sie schnell hinzu: Denn längst habe man sich im "Sozialpädagogischen Zentrum Spattstraße" in Linz darangemacht, das in Misskredit geratene Projekt "Nomaden auf Zeit" einer Generalsanierung zuzuführen - um es ehestmöglich wieder zu starten. Immerhin blicke man auf eine über 20 Jahre währende Erfahrung im Bereich Erlebnispädagogik zurück. Zudem wäre die Tour durch die Wüste Sinai mit dem Ziel der Neuorientierung für Jugendliche neun Mal zuvor geglückt. Allerdings habe man beim zehnten Mal "die Gruppendynamik unterschätzt", gesteht Werner Gerstl, ärztlicher Leiter des Zentrums Spattstraße und Primar für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Landeskinderklinik Linz.

Folgenschwerer Wüsten-Trip

Die Folgen dieses Versäumnisses sollten monatelang durch die Medien geistern - und Projekte der Erlebnispädagogik mit verhaltensauffälligen oder straffällig gewordenen Jugendlichen in die Krise stürzen: Im April 2001 hatten Jugendliche im Rahmen des Wüsten-Trips ihre neun Betreuer und die begleitenden Beduinen attackiert. Für den Staatsanwalt war dies neunfacher Mordversuch. Schließlich wurden vier strafmündige Jugendliche - zwei Burschen und zwei Mädchen - (nicht rechtskräftig) zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Dass die Jugendlichen bei ihrem Marsch - wie kolportiert - gehungert hätten, bestreitet Werner Gerstl vehement. Auch die Vorbereitung und Qualifikation der Betreuer sei ausreichend gewesen. "Der Grundfehler war, dass die Jugendlichen bei der Einvernahme keinen Rechtsbeistand hatten."

Was genau bei den "Nomaden auf Zeit" aus dem Ruder lief, welche Gefahren, aber auch welche Chancen solche Touren bergen, ist nach wie vor strittig. Die Abteilung Jugendwohlfahrt des Landes Oberösterreich stoppte jedenfalls die Bewilligung ähnlicher Projekte und rief eine Arbeitsgruppe ins Leben, die bis November dieses Jahres über die Zukunft der Erlebnispädagogik in Oberösterreich befinden soll.

Nicht nur die "Nomaden auf Zeit", auch ein anderes Vorzeigeprojekt, die so genannte "Arche Noah", geriet in die Kritik, nachdem es beim elften, insgesamt neunmonatigen Segeltörn um die Küsten Europas zu Handgreiflichkeiten an Bord gekommen war. Zwischenfälle seien jedoch unvermeidlich, erklärt der Sozialarbeiter und Initiator des Projekts, Herbert Siegrist: "Gerade die ersten Monate sind ein Kampf: Wer ist der Stärkere?" Das Schiff sei ohne Zweifel der ideale Rahmen, traumatische Erlebnisse zu reflektieren und das Leben neu zu ordnen, so Siegrist. Zudem erschwere es die Flucht. Sechs qualifizierte Betreuer würden den sechs Jugendlichen bei der Selbsterfahrung zur Seite stehen. Zwar sei man durch die negativen Schlagzeilen unter Druck geraten, "Törn 12" ab Februar 2003 sei jedoch gesichert.

Wenn auch Zwischenfälle niemals auszuschließen sind: Ein verbessertes Qualitäts- und Krisenmanagement soll in Hinkunft bei erlebnispädagogischen Projekten Eskalationen wie in der Wüste Sinai vermeiden helfen. "Vor allem ist die Frage zu klären, wo die Grenzen zwischen ,auffälligen' und ,gewaltbereiten' Jugendlichen zu ziehen sind", nennt Gerhard Häuslmann von der Abteilung Jugendwohlfahrt der oberösterreichischen Landesregierung ein Ziel der Arbeitsgruppe.

In diesem Gremium ist auch Martina Gasser vom Vorarlberger Institut für Sozialdienste vertreten. Worum es in der Erlebnispädagogik gehen soll - und worum nicht -, weiß sie nur zu gut. Gemeinsam mit Helmut Köpf entwickelte die Sozialpädagogin mit 15-jähriger Erfahrung in der Jugendarbeit 1997 ein Projekt zur Wiedereingliederung Jugendlicher - das "Jugendintensivprogramm". Im Mai wurde die Angebotspalette noch um ein Programm für jugendliche Straftäter erweitert. "Zu uns kommen Jugendliche, die weder gruppen- noch arbeitsfähig sind und bei denen alle herkömmlichen Unterstützungsmethoden versagt haben", beschreibt Gasser die Zielgruppe. Um das Risiko zu minimieren, wird zu Beginn des 23 Wochen dauernden Programms eine sozialpädagogische Diagnose der Teilnehmer vorgenommen. Auch die Aufteilung in Kleingruppen - je zwei Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren und ein qualifizierter Betreuer - erhöhe die Sicherheit, so Gasser.

Der Programmablauf ist klar strukturiert: In der dreiwöchigen Eingangsphase bereiten die Kleingruppen einen mehrwöchigen Auslandsaufenthalt in den Projektstaaten Indien, Nigeria, Rumänien oder Bulgarien vor. Bereits in dieser Phase werden die Jugendlichen und ihre Familien psychologisch betreut und sollen durch gemeinsame Aktivitäten lernen, Verantwortung zu übernehmen und Teamgeist zu entwickeln. Straffällige Jugendliche durchlaufen zusätzlich eine therapeutische Phase, die sich eingehend mit ihrem Delikt und der Rückfallvorbeugung befasst.

Gesteigerter Selbstwert

Im Ausland selbst steht weniger die körperliche Grenzerfahrung als die Reduktion äußerer Reize im Mittelpunkt. Dies soll den Jugendlichen ermöglichen, sich mit ihrer Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. In der Folge arbeiten die Kleingruppen vor Ort in Sozialhilfeprojekten mit. Die Varianten reichen von der Mithilfe beim Krankenhausbau in Rumänien bis zur Arbeit in einem Behindertenheim in Nigeria. "Diese Arbeiten werden geschätzt. So können die Jugendlichen ihren Selbstwert steigern", weiß Gasser. Abgeschlossen wird das Programm mit einer zehnwöchigen Neuorientierungsphase - wieder unter Einbeziehung der Familien.

Bisher haben 60 Jugendliche dieses Programm absolviert - und nach eigenen Angaben stark profitiert. Pro Jahr finanziert das Land Vorarlberg weitere zwölf Plätze mit je 27.453 Euro - eine Investition, die sich lohnt, ist Martina Gasser überzeugt: "Wenn man bedenkt, dass ein Gefängnistag bis zu 218 Euro kostet, ist das sogar günstig."

Nähere Infos beim Institut für Sozialdienste unter www.ifs.at

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