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Großeltern im Generationengedächtnis: „Der schönste Moment"

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Die Geheimnisse der Ahnen prägen. Psychotherapeut Wolfgang Krüger erzählt im Gespräch mit der FURCHE, wie die Erforschung der Großeltern-Geschichte befreien kann.

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Die Geheimnisse der Ahnen prägen. Psychotherapeut Wolfgang Krüger erzählt im Gespräch mit der FURCHE, wie die Erforschung der Großeltern-Geschichte befreien kann.

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Der Psychotherapeut Wolfgang Krüger ist sich sicher: Die Geheimnisse unserer Großeltern leben in uns fort. Im Gespräch mit der FURCHE erzählt der Berliner über belastende Familienaufträge, seine eigene Familiengeschichte und davon, wie er sie schließlich bewältigt hat.

DIE FURCHE: Sie sind Großelternforscher. Wie kam es dazu?

Wolfgang Krüger: Einerseits durch meine psychotherapeutische Tätigkeit. Ich hatte eine Patientin, die immer zu mir sagte: Man kann nichts tun. Ganz resignativ, sehr schnell und sehr früh. Sie hat selbst nicht verstanden, warum sie diese Einstellung hatte. Dann stellte sich heraus, dass ihre Urgroßeltern ein Restaurant hatten und vier Söhne. Diese vier Söhne sind alle in einer relativ kurzen Zeit im Krieg an der Westfront gestorben, ganz schnell hintereinander. Die Urgroßeltern waren so traumatisiert, dass sie dann nur noch auf der Bank vor ihrem Restaurant saßen und gemurmelt haben: Man kann ja nichts tun. Als die Patientin begriffen hat, wie das entstanden ist, war das wie eine Befreiung für sie. Wir übernehmen Normen und Stimmungen, die es in früheren Generationen gab, ohne zu wissen, wie sie entstanden sind und ohne sie zu hinterfragen. Wenn wir nur die Gegenwart und die Ebene der Eltern betrachten, begreifen wir viele Dinge nicht. Wir müssen mindestens unsere Großeltern und Urgroßeltern erforschen.

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DIE FURCHE: Andererseits haben Sie auch einen persönlichen Zugang…

Krüger: Ich selbst habe mit 40 Jahren begriffen, dass irgendetwas mit meiner Familie nicht stimmt. Ich war ausgesprochen erfolgreich, hatte aber stets eine innere Unruhe, ein Getriebensein, von dem ich überhaupt nicht wusste, wo das herkam. Als ich jünger war, wollte ich über meine Familiengeschichte gar nichts wissen. Ich hatte das Gefühl, das sei schwierig, wollte mir das vom Leib halten. Dann ist eine Tante gestorben und hat eine Kiste mit Material hinterlassen, ein Koffer mit lauter Bildern und Aufzeichnungen über unsere Familie. Das hat mich motiviert. Ich habe versucht rauszufinden, was früher gewesen ist und wie das mein Leben beeinflusst. Das war, abgesehen von der Liebe, mit Abstand das Aufregendste, was ich jemals erlebt habe.

DIE FURCHE: Was haben Sie dabei erfahren?

Krüger: Es gab in meiner Familie immer eine traurig gedämpfte Stimmung. Sie kam aus traumatischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, aber auch dem Familienauftrag meines Urgroßvaters. Der Mann wollte immer, dass ich den Namen der Familie wieder groß mache. Und plötzlich haben sich so unendlich viele Dinge für mich erklärt. Die Stimmung, die mir so selbstverständlich vorgekommen war, hatte einen Grund. Das war wie eine Durchleuchtung, eine Befreiung. Seitdem bin ich ein engagierter Großelternforscher, aus eigener Betroffenheit.

DIE FURCHE: Sie haben gerade den Familienauftrag genannt. Was ist das?

Krüger: Für die Generation der Großeltern, die den Krieg oder die Nachkriegszeit erlebt hat, sind viele eigene Lebensziele nicht in Erfüllung gegangen. Man hat Großes gewollt, hat es aber nicht bekommen. Man hat jemanden geheiratet, den man nicht unbedingt liebte, hat einen Beruf ergreifen müssen, den man vielleicht nicht wollte. Die sachlichen Notwendigkeiten spielten in der Generation unserer Großeltern eine große Rolle, teilweise auch Flucht und Vertreibung. Da werden all die Hoffnungen, die man hat, auf spätere Generationen übertragen. Ich selbst hatte einen Urgroßvater, der ein sehr berühmter Weinhändler war, und in der Weltwirtschaftskrise ging er pleite. Die Familie verarmte, wollte aber die Hoffnung halten, dass mal einer den Namen der Familie wieder groß machen wird. Ich habe Vorträge gehalten vor tausenden Leuten, bin anschließend von dem Podium gegangen und hatte das Gefühl, ich habe meine Pflicht getan. Als ich den Familienauftrag erkannte, da wusste ich, woher das kam.

Wir sind erst dann in der Lage, ein Leben nach freier Wahl zu führen, wenn wir nicht mehr durch veraltete Normen von vor 200 Jahren gesteuert werden.

DIE FURCHE: Diese Aufgaben, sagen Sie, werden wortlos übertragen. Wie kann man sich das vorstellen?

Krüger: Zunächst einmal werden traumatische Belastungen übertragen, und zwar vor allem in Form von Defiziten. Wenn Sie traumatische Dinge erfahren, müssen Sie in einen Überlebensmodus fahren und alle Affekte, wie Angst, Freude, Hoffnung, Leidenschaften und Wut, ausschalten. Menschen, die erlebt haben, wie Angehörige gestorben sind, wie Häuser kaputt wurden, die Leichen gesehen haben, können das gar nicht verarbeiten. Daran würden sie kaputtgehen. Also schalten sie in diesen Überlebensmodus und erlebt Dinge nur noch von ihrer technischen Seite, statt sie zu fühlen. Übrig bleibt dann nur noch die Hülle unseres Lebens, das Lebendige ist weg. Das hilft beim Überleben. Aber wenn man dann Kinder hat, lebt man zu diesen eine sehr eingeschränkte Beziehung. Man kann sie nicht leidenschaftlich lieben, sondern versorgt sie bloß. Die Kinder bekommen zwar alle nötigen materiellen Dinge, aber ihnen fehlt wirkliches Interesse. Diese Defizite werden weitergegeben. Dann fehlt Kindern noch in der dritten bis vierten Generation der innere Halt und Orientierung im Leben. Gleichzeitig werden die Kinder für Handlungen gelobt oder in Punkten bestärkt, durch die Familienaufträge weitergegeben werden. Mir haben die Erwachsenen damals zum Beispiel oft gesagt, ich hätte ja jetzt schon so große Füße, ich würde noch etwas ganz Besonderes werden und im Leben etwas zustande bringen.

DIE FURCHE: Sie schreiben auch, dass Großeltern gerne über ihr Leben schweigen. Gerade im Kontext des Nationalsozialismus wird man da ein wenig misstrauisch. Geht es dabei darum, etwas zu verheimlichen?

Krüger: Das Schweigen liegt zum einen an den traumatischen Ereignissen, die die Großeltern selbst ja auch nicht verstehen. Sie haben schweigen müssen, und das verselbstständigt sich. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass es sich dabei häufig um Momente handelt, in denen das ganze Leben kaputtgegangen ist. Darüber redet man nicht, weil das mit Schmerzen verbunden ist. Das Dritte sind Schuld und Scham. Viele waren in den Nationalsozialismus verstrickt. Einer meiner Großväter war Blockwart der NSDAP. Darüber wurde überhaupt nicht gesprochen.

DIE FURCHE: Sie schreiben: „Man muss die Familienrätsel lösen, um ein glückliches Leben führen zu können“. Was macht man denn nun, wenn man die Geheimnisse der Vorfahren aufgedeckt hat?

Krüger: Viele haben das Gefühl, wenn man die Familienrätsel aufdeckt, wird das Leben erst einmal schwierig. Und das ist zunächst richtig. Ich habe damals erfahren, dass einer meiner Großväter in einem russischen Lager mit unvorstellbaren Verhältnissen war. Er hatte fast nichts zu essen, war sehr eingefallen. Als mir das klar geworden ist, bekam ich Schlafstörungen. Aber nachdem ich mehr über meine Familie wusste, hatte ich den Eindruck, dass mir erstmals die gesamte Palette von Gefühlen zur Verfügung stand: Hoffnung, Ausgelassenheit, aber auch Wut und Zorn. Alles, was in unserer Familie unter den Teppich gekehrt wurde, war wieder da. Das Leben wurde sehr viel lebendiger. Ich konnte mich von den Familienaufträgen teilweise befreien und hatte eine Chance, die Normen, die aus früheren Generationen stammten, zu erkennen und zu überprüfen. Wir sind erst dann in der Lage, ein Leben nach freier Wahl zu führen, wenn wir nicht mehr durch veraltete Normen von vor 200 Jahren gesteuert werden. Wir wissen, dass diese traumatischen Ereignisse sonst bis in die vierte Generation weitergegeben werden, sodass also auch jene Kinder, die heute klein sind, immer noch davon betroffen sind.

DIE FURCHE: Heute leben wir wieder in Krisenzeiten. Depressionen und Ängste sind weit verbreitet. Was werden wir einmal aus unseren eigenen Erfahrungen unseren Enkeln mitgeben, wenn wir es geschafft haben, die Belastungen unserer Großeltern abzuschütteln?

Krüger: Die Frage ist, wie engagiert Sie leben, ob Sie auf die heutige Verunsicherung der Zeit Antworten geben, die souverän sind. Wir haben in unserem Bezirk zum Beispiel beschlossen, ein Netzwerk zu bauen, weil in Zeiten der Verunsicherung nur Solidarität hilft. Meine Frau und ich kümmern uns außerdem um Geflüchtete, aus der Ukraine oder zuvor aus Albanien. Wir müssen das Gefühl haben, mit anderen zusammen zu kämpfen, der Welt nicht ohnmächtig gegenüberzustehen, gemeinsam etwas zu schaffen. Wir müssen heute Verantwortung tragen. Wenn Sie nach solchen Mustern leben, können Sie den Lebensmut auch in schwierigen Situationen behalten. Und das werden Sie an Ihre Kinder und Enkel weitergeben.

Das Wichtigste, das Großeltern mitzugeben haben, ist ihre Lebensgeschichte. Also nicht das Geld, sondern das Wissen, die große Lebensweisheit, die sie haben.

DIE FURCHE: Apropos Handlungsfähigkeit: Wo beginne ich denn, wenn ich nun meine Großeltern erforschen möchte?

Krüger: In den meisten Fällen lösen wir uns erstmal etwas von der Familie, um die eigenen Lebensziele zu finden: eine feste Partnerschaft, Kinder, Beruf, Karriere. Wenn wir damit fertig sind und mal tief durchatmen, fangen wir an, uns für die Großeltern zu interessieren. Dann sind wir in den meisten Fällen Ende 40, die Großeltern verstorben und das Ganze wird zu einer Detektivarbeit. Das ist die Schwierigkeit. Ich habe das selbst erlebt und dann alle Leute befragt, die meine Großeltern kannten. Man beginnt mit dem Zwiebelprinzip, nähert sich mit harmlosen Themen und je länger man redet, kann man auch nach den heikleren Sachen fragen. Wenn die Großeltern noch am Leben sind, kann man persönlichere, intime Fragen stellen, sich Fotos zeigen lassen und dazu erzählen lassen. Noch schöner ist es, wenn man mit ihnen zusammen an den Ort fährt, an dem sie aufgewachsen sind. Das bringt die Großeltern eigentlich immer zum Reden.

DIE FURCHE: Wenn in einer Familie zerrüttete Verhältnisse vorliegen, wird das Reden aber schwieriger.

Krüger: Dann gibt es die Möglichkeit, Leute zu finden, die die Verhältnisse der Familie von außen her gekannt haben. Österreich ist ein kleines Land, da finden sich oft Lehrer, Putzfrauen oder andere, die die Familie gekannt haben. Oft findet man noch andere Personen, die etwas redseliger sind. Da muss man erfinderisch sein und vorgehen wie die Kriminalpolizei auf der Suche nach einem Mörder.

DIE FURCHE: Es gibt aber wahrscheinlich auch die Möglichkeit, in archiviertes Material einzusehen?

Krüger: Das können Sie machen. Dann haben Sie aber nur die nackten Daten. Sie wissen dann normalerweise, wann jemand geboren oder gestorben ist, wenn Sie Glück haben auch, was wer beruflich gemacht hat. Damit können Sie einen Familienstammbaum erstellen und das ist natürlich zunächst mal sinnvoll. Sie müssen diesen dann aber noch mit Leben füllen. Doch wenn ich dann die Großelternforschung beginne, bekomme ich oft einen ernüchternden Blick. Wenn wir die Familiengeschichte erforschen, nehmen wir den Blick des Betrachters ein. Wir schauen skeptisch von oben und sind mitunter etwas ungerecht. Es ist wichtig, dass wir dann darauf achten, uns die Familiengeschichte nicht kaputt zu machen. Auch für mich war das wichtig, denn ich mochte meine Großmutter, bei der ich aufgewachsen bin, sehr. Ich habe also zunächst überlegt: Was habe ich den Großeltern alles zu verdanken? Was war positiv? Das muss man dann gegen die negativen Erkenntnisse halten.

DIE FURCHE: Was ist denn das Beste, das sie aus ihrer Familienerforschung gelernt haben?

Krüger: Das Wichtigste, das Großeltern mitzugeben haben, ist ihre Lebensgeschichte. Also nicht das Geld, sondern das Wissen, die große Lebensweisheit, die sie haben. Ich habe immer wieder erlebt, dass Großeltern unendlich gerührt sind, dass jemand so viel fragt, ihnen Bedeutung gibt und zuhört. Im Normalfall ist das nie passiert. Keiner wollte wissen, wie das ist, wenn man in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist, im Krieg oder nach dem Krieg. Man hatte niemanden, dem man das erzählen konnte, nicht dem eigenen Mann, nicht den Kindern, schon gar nicht den Nachbarn. Es hat keinen interessiert, das hat man für sich ausgemacht. Wenn jetzt jemand kommt und so kluge Fragen stellt, kann das zum schönsten Moment im Leben Ihrer Großeltern werden.

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Buch

Die Geheimnisse der Großeltern

Unsere Wurzeln kennen, um fliegen zu lernen
Von Wolfgang Krüger
Books on Demand 2020 172 S., geb., € 13,90

krüger - © Foto: Gerald Wesolowski

Wolfgang Krüger ist tiefenpsychologischer Psychotherapeut und Autor.

Wolfgang Krüger ist tiefenpsychologischer Psychotherapeut und Autor.

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