Guter Rat für Brexit-Gaffer

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Wenn man etwas als "historisch" bezeichnet, verbindet man damit gewöhnlich eine weitreichende Entscheidung, welche die Zukunft und das Leben künftiger Generationen beeinflusst. In den vergangenen Tagen haben sich die Abgeordneten zum britischen Parlament darin überschlagen, die Wichtigkeit ihrer Debatte über das Austrittsabkommen mit der EU zu betonen. Freilich grinst nun nach dem historischen Votum hinter all dem Pathos die Absurdität hervor: Denn so groß war offensichtlich die Entscheidung, dass bis heute keiner sagen kann, was sie eigentlich konkret bedeutet.

Wir wissen aber immerhin soviel: Die britischen Politiker aller Farben fühlen sich ihren Wählern ungeheuer verbunden. So sehr, dass sie ihnen alles geben wollen, selbst das, was sie gar nicht haben. Und so versprechen sie (nicht nur die Brexiteers, nicht nur die Tories, auch Labour) die Freiheit von der EU und alle Vorteile der EU. Sie fantasieren von Eigenständigkeit der Gesetzgebung und den Mitentscheidungsrechten in der EU. Sie fordern die Abkoppelung vom Wirtschaftsraum und geben Arbeitsplatzgarantien. Das ist eine Politik, die in Reden ganz toll ankommt.

Westminsters Realitätsfall

Das Problem ist nur, dass es nun Zeit wird, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Das wird schmerzhaft. Denn in diesem Verfahren müsste eingestanden werden, dass die vielgebashte Theresa May die einzige war, die nicht träumte, und ihr Deal mit Brüssel das Einzige ist, was Großbritannien bekommen wird.

Damit könnte es der Rest der EU bewenden lassen und aus gesicherter Distanz dem Leiden der Briten zusehen. Aber auch das ist gefährlich. Denn die Gaffer glauben sich besser als die Begafften. Das sind sie nicht. Die Briten haben ja nicht aus reinem Irrwitz zu dieser EU Nein gesagt. Sie haben Nein gesagt zu einem Staatenbündel, das geprägt ist von Unsicherheit und Unzufriedenheit, die sich in Nationalismus und dem Aufstieg von Populisten entladen. Sie haben Nein gesagt zu einer Politik, die nach wie vor große Reformen verweigert. Und die vor allem die Bürger in Ohnmacht hält. Es reicht nicht aus, mit großem Trara eine Volks-"Bewegung" zu proklamieren und sie dann zu einer One-Man-Pomp-Show herabzustufen, wie Emmanuel Macron das tut. Das funktioniert nicht. Weder in Frankreich noch sonst wo. Die Europawahlen werden klar zeigen, dass die "Gelbweste" ein gesamteuropäischer Zustand ist.

Raus aus der EU-Folklore

Die EU muss sich reformieren, will sie nicht ins Fahrwasser des globalen Trumpismus geraten. Das schafft sie nur auf dem Weg ernstgemeinter Bürgermobilisierung. Sie muss erkennen, dass europäische Gemeinsamkeit sich nicht in überregionalen Kochkursen oder lustigen Gruppenreisen nach Brüssel erschöpfen darf oder schon gar nicht in Konferenzen zur Identität Europas. Die Bürger müssen konkret Einfluss nehmen können, wie sie auf regionaler, aber auch nationaler Ebene ihre Wirtschaft und ihre Arbeitswelt gestalten. Die EU muss Experimentierfelder alternativer Gesellschaftsmodelle unterstützen und öffnen. Indem etwa Versuchsregionen von freiwilliger Arbeit und Bedingungslosem Grundeinkommen geschaffen werden, kleinräumige Steuerund Währungssysteme den Handel beleben und regionale Standards der Nahversorgung (Kaffeehaus, Bäcker, Greißler etc.) den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern.

Die EU müsste in diesem Sinn im Leben der Menschen ankommen. Vieles davon wird den Rückbau von Gesetzen bedeuten. Aber dieser Rückbau wird der Union guttun, denn er rückt den Bürger wieder an jenen Platz, den ihm die demokratische Ordnung eigentlich zugesteht. Als Akteur, nicht als zwangsbeglücktes Objekt und wahltaktische Schubmasse.

Mit gewisser Sicherheit werden dann übrigens auch die Briten zurückkehren, in einem diesmal tatsächlich historischen Akt und einer Erkenntnis, die nur mithilfe gesamteuropäischer Reform zur Entscheidung reifen kann: Exit Brexit.

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