"Haftzahlen sind kein Naturereignis"

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Gefängnisse bauen ist der falsche Weg, meint die Kriminalpolitische Initiative - und zeigt Alternativen auf.

Politik im Bau: Vor dem Parlament eine riesige Baustelle und im Hohen Haus Justizminister Dieter Böhmdorfer, der in der Fragestunde die von ihm favorisierten Gefängnisneubauten verteidigt. "Absurd", nennt Böhmdorfer die Kritik am Bau eines zweiten Wiener Landesgerichts, um neuen Platz für die stark steigende Zahl an Untersuchungs-Häftlingen zu schaffen. "Fantasielosigkeit im Strafrecht", kontert Frank Höpfel. Gemeinsam mit sechs weiteren Fachleuten hat der Wiener Universitätsprofessor für Strafrecht und Kriminologie die "Kriminalpolitische Initiative" (KI) gegründet. Anlass waren die geplanten Gefängnisneubauten, sagt Rechtsanwalt Richard Soyer. Die Initiative will Alternativen aufzeigen und meldet sich zu Wort, "weil aus dem politischen Bereich keine produktiven Impulse kommen".

Rote Ampeln abschaffen?

Die ministerielle Retourkutsche auf dieses Vorpreschen folgte in der parlamentarischen Fragestunde am Donnerstag vor Pfingsten: In Summe könnten die Vorschläge der KI die momentane Situation "nicht wirklich entlasten", meinte Böhmdorfer. Strikt ablehnend steht der Minister einer "Entkriminalisierung gewerbsmäßiger Delikte" gegenüber. Denn: Man könne auch nicht die roten Ampeln abschaffen, wenn diese vermehrt überfahren werden.

Da hat Jurist Böhmdorfer aber seine Juristenkollegen von der KI grob missverstanden. Die Initiative fordert, dass man - um beim Ampel-Vergleich zu bleiben - nicht schon nach einem Mal Ampel überfahren als "gewerbsmäßiger Ampelüberfahrer" eingestuft wird - was zu einem bis zu zehnfachen Strafausmaß führen kann. Die KI schlägt stattdessen vor, die Gewerbsmäßigkeit zum Beispiel bei Laden- oder Taschendiebstählen an objektive Kriterien wie die mindestens fünffache Tatwiederholung anzubinden".

Und was denkt sich das Opfer, beispielsweise des vierten oder fünften Diebstahls? - Die Experten der Initiative betonen, dass sie allesamt keine Revoluzzer seien oder Haftstrafen generell ablehnen würden: "Die von uns vorgeschlagenen Reformen beruhen größtenteils auf europäischen Vorbildern, sind pragmatisch und mit Augenmaß formuliert."

Für Frank Höpfel ist wichtig, auf die Nachteile hinzuweisen, die das Einsperren von Menschen hat: "Mit Freiheitsentzug schneidet sich die Gesellschaft ins eigene Fleisch." Wolfgang Gratz, Leiter des Fortbildungszentrum Strafvollzug und ebenfalls in der KI engagiert, formulierte es einmal noch krasser: "Unsere Gefängnisse stellen zu Stein gewordene Katastrophen dar. Mehr als die Hälfte der Entlassenen kehrt innerhalb von fünf Jahren, der Großteil hiervon relativ rasch wieder ins Gefängnis zurück. Das Gefängnis betreibt Energievernichtung und macht tendenziell unglücklich - das gilt nicht nur für die Gefangenen, sondern auch für das Gefängnispersonal. In einer zweckorientierten, professionell handelnden und entwicklungsorientierten Gesellschaft stellt es ein bizarres Relikt vergangener Epochen dar."

Häftlingszahlen wie derzeit waren in Österreich charakteristisch für die Zeit vor der Großen Strafrechtsreform und traten zuletzt vor rund 20 Jahren auf, rechnen die KI-Experten vor: "Ein derartiges Wachstum des Gefängnisbelags wie in den letzten beiden Jahren ist beispiellos - sieht man von der kurzen Episode 1989 bis 91 ab." Als Folge davon beklagt Gratz: "Der Strafvollzug wird zum Verwahrvollzug."

Um den stark steigenden Anteil an kurzen U-Haften Herr zu werden, schlägt die Initiative vor, nach deutschem Vorbild die gewöhnlichen Haftgründe auf Flucht bzw. Fluchtgefahr sowie Verdunkelungsgefahr zu beschränken. Ansonsten sollte U-Haft nur mehr gestattet sein, meint die KI, wenn der Beschuldigte einer besonders gefährlichen Tat verdächtig ist.

Um dem Vorwurf der Blauäugigkeit zuvorzukommen, betonen Höpfel, Gratz, Soyer und die anderen Unterstützer der Initiative, dass nationale Erfahrungen und internationale Studien beweisen: "Eine Reduktion von Inhaftierungen und Haftdauer bedeuten keineswegs einen Sicherheitsverlust für die Bevölkerung." Beispiele gefällig?

"Haftzahlen sind kein Naturereignis, sie sind beeinflussbar", erklärt der Kriminalsoziologe Arno Pilgram. In Österreichs Gerichten werde sehr unterschiedlich mit Strafen umgegangen. Pilgram: "Die Wiener Richter strafen um vieles strenger als ihre Kollegen im Westen." In Wien bekommt man für gleiche Straftaten höhere Strafen als in Westösterreich - "diese unterschiedliche Gerichtsorganisation hat aber keinen Einfluss auf die Kriminalität". Eine Studie von KI-Unterstützer Christian Grafl (siehe Interview) hat ergeben: Würden die Wiener Richter so urteilen wie ihre Kollegen in Westösterreich, wären die österreichischen Gefängnisse um knapp ein Viertel weniger belegt.

Weniger Häftlinge im Gefängnis, dafür eingesperrt zu Hause, ist ein Vorschlag der Initiative, mit dem sich sogar Minister Böhmdorfer bei der Fragestunde im Parlament anfreunden konnte: elektronischer Hausarrest. Die KI-Experten halten die elektronischen Fußfesseln aber nur für sinnvoll, wenn es gleichzeitig gute Betreuung durch Sozialarbeiter gibt.

Gleiches gilt für den KI-Wunsch nach mehr bedingten Entlassungen. Österreich hinkt hier im internationalen Vergleich weit hinterher. Eine "kurzsichtige Politik", meint Grafl. Denn wenn die Strafzeit einmal aus ist, muss der Häftling so oder so unbedingt entlassen werden. "Dann habe ich aber keine Möglichkeit mehr, auf die Person mit Bewährungshelfer, mit Therapie, mit Auflagen positiv einzuwirken", kritisiert Kriminologe Grafl: "Dann gibt es nur mehr einen Handschlag am offenen Gefängnistor, verbunden mit den besten Wünschen - die aber leider oft zuwenig sind."

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