Heil-Edelsteine gegen Lernblockaden

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Mit Bachblüten und Globuligegen Rechtschreibfehler:Wie stark der esoterischeSupermarkt auch im Schulbereich boomt, zeigt das Beispiel Legastheniker. Bei ratsuchenden Eltern werden Hoffnungen geweckt, die sich nicht erfüllen (können).

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Mit Bachblüten und Globuligegen Rechtschreibfehler:Wie stark der esoterischeSupermarkt auch im Schulbereich boomt, zeigt das Beispiel Legastheniker. Bei ratsuchenden Eltern werden Hoffnungen geweckt, die sich nicht erfüllen (können).

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Im Umgang mit sogenannten Legasthenikern - Kindern mit großen Problemen beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens - vollzieht sich ein drastischer Wandel: Unter weitgehender Absenz einer kritischer Fachöffentlichkeit vollzieht sich ein "role-back" zu alten, wissenschaftlich längst überwunden geglaubten Legastheniekonzepten.

Getragen von wirtschaftlichen Interessen treibt die Mystifikation kindlicher Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten immer neue Blüten in Richtung Therapeutisierung und Pathologisierung. Ein nahezu unüberschaubarer esoterischer Supermarkt hat sich etabliert: Bach-Blüten und Globuli gegen Rechtschreibfehler.

Aus meiner Klientendatei ergibt sich, dass Bach-Blüten quer durch alle Indikationsstellungen (am häufigsten bei Rechtschreibproblemen) gegeben werden. Nahezu 75 Prozent der Kinder waren damit vorbehandelt, ehe kinderpsychologische Beratung aufgesucht wurde. "Besonders bei Kindern kann man mit der Bach-Blütentherapie schöne Erfolge erzielen (zum Beispiel bei Stottern, Ängsten, Heimweh, Verhaltensstörungen wie Hyperaktivität, Konzentrationsschwäche, Bettnässen ...)" schreibt "Akzente", die Verbandszeitschrift der Eltern hyperaktiver Kinder.

Diverse Gesundheits- oder Elternzeitschriften preisen die "feinstofflichen Wirkungen" der nach dem englischen Arzt Edward Bach entwickelten, in Alkohol verdünnten Blütenextrakte. Für viele Kinder gibt es kein Diktat ohne "Rescue - Nr. 39", die Notfall-Tropfen für alle Fälle.

Angesichts der verbreiteten Anwendung der Blütenextrakte spricht die Zeitschrift "Konsument" von "blühendem Wildwuchs", und die Deutsche Stiftung Warentest rät von der Einnahme ebenso ab wie die Bundesvereinigung deutscher Apothekervereine. Begründung: Bachblüten sind eine Mischung aus Scharlatanerie, Aberglauben und Geschäftemacherei.

Auch die Praxis, Kindern mit Schulschwierigkeiten vermehrt homöopathische Globuli zu verabreichen, ist weit verbreitet. Was - außer einem kurzzeitigen Placebo-Effekt - sollen solche Mittel etwa bei einem verängstigten, mutlosen Kind bewirken, das allwöchentlich sein Diktat-Waterloo erlebt, weil es schulisch wie häuslich völlig ineffizient lernt? Kann es damit jemals lernen, mit sich und seinen Problemen besser umzugehen?

Ein geradezu klassisches Beispiel der Versimplifzierung von Genese und Therapie kindlicher Lern- und Verhaltensprobleme ist die Edu-Kinestetik (Bewegungspädagogik) beziehungsweise das Brain-Gym (Lerngymnastik), basierend auf den Publikationen von Paul E. Dennison (z.B.: 1990).

Der Autor - Verlagsangaben zufolge - "Pionier in angewandter Gehirnforschung" bedient sich eines der zentralen Elemente des aktuellen Booms, nämlich der Reaktivierung der angestaubten Gehirnhälften-Theorien aus den fünfziger Jahren. Ob Lernstress, blockierte Lebensenergie, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Legasthenie: Mit der mangelnden Zusammenarbeit der linken und rechten Gehirnhälfte werden die Ursachen nahezu aller kindlichen Störungen begründet. Mangelndes Zusammenspiel der Gehirnhälften, gestörter Energiefluss, Blockade des Energiesystems sind die stereotyp wiederkehrenden Universalerklärungen.

Die von Dennison entwickelte Angebotspalette simpler Gymnastikübungen (Liegende Acht, Überkreuz-Gehen und Hüpfen, Wadenpumpe, Eule et cetera) sollen den Energiefluss ausbalancieren und eine "Verbindung der beiden Gehirnhälften" herstellen. "Mit zwei Fingern das Steißbein und mit weiteren zwei Fingern die Oberlippe für 30 Sekunden halten. Dies verhilft zur besseren Raumorientierung und hält dich offen für Informationen nach außen (Raumknöpfe, Gouverneursmeridian); dehne und ziehe die Ohren sanft von innen nach außen und von oben nach unten. So kannst du besser zuhören (Denkmütze) ..." Mit derlei Übungen wird der Abbau von "Lernblockaden" und "legasthenischen Störungen" versprochen.

Simpel & verfälschend Weil sich Edu-Kinestetik und Brain Gym seit Jahren im lukrativen Nachhilfe- und Lernförderungsmarkt und auch vermehrt in der staatlichen Lehrerfortbildung breitmacht, hat das "Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München" umfangreiche Expertisen zur Edu-Kinestetik eingeholt. Darin wird Kinesiologie als "eine derartige Versimplifzierung und Verfälschung der Vorgänge des zentralen Nervensystems" bezeichnet, "dass die Aufnahme so erklärter diagnostischer und therapeutischer Techniken zum Umgang mit Kindern in hohem Maße beunruhigen muss". Die Autoren kritisieren nicht nur die allzu simple Problemlösestrategie, mit der Kinder das "An- und Abschalten" (analog der Funktion elektrischer Geräte) als Lösung für Probleme lernen sollen, sondern auch, dass sie sich durch die Manipulationen des Brain-Gym als behandlungsbedürftig und "nicht in Ordnung" erleben.

Breitenbach und Keßler (1997) haben empirische Forschungsarbeiten zum sogenannten "Muskeltest" zusammengetragen. Dieser dient Kinesiologen als Universal-Diagnoseinstrument und auch dazu, passende Blütentropfen, homöopathische Globuli, oder gar den richtigen Heil-Edelstein für ein Lernproblem zu eruieren. Die Autoren kommen zu dem Schluss, "dass der Muskeltest aus empirischer Sicht derzeit kein diagnostisches Verfahren ist. Ebenfalls muss darauf hingewiesen werden, dass momentan nur mangelhafte empirische Belege für die Effektivität edukinestetischer Förderung vorliegen". Kinesiologie ist nicht nur unnütz und teuer, sondern auch schädlich, wenn damit wertvolle Zeit für wirkliche Hilfe vertan wird.

Aufbauend auf den Techniken des sogenannten Neurolinguistischen Programmierens (NLP) hat Klaus H. Schick das "neuropsychologische Konzept" einer "NLP-Rechtschreibtherapie" (Buchtitel,1995) entwickelt. Was sich allerdings hinter dem vielversprechenden Titel als "Therapie" verbirgt, ist ein Verfahren, das die Arbeit an kindlichen Rechtschreib- und Leseschwierigkeiten auf einige wenige Manipulationstechniken reduziert. Die Anleihen und Querverbindungen zur funktionalistischen Gehirnhälftentheorie von Dennison (siehe oben) sind überaus zahlreich, die theoretisch-empirische Fundierung ähnlich mager. Die Lektüre des Buches lohnt den Zeitaufwand kaum, denn der Praktiker muss sich geradezu gefoppt fühlen vom Missverhältnis seitenlanger so genannter theoretisch-wissenschaftlicher Fundierungen und der tatsächlichen Hilfe für die Praxis. Getrost kann er sich 150 Seiten Text ersparen.

Auf nur einer Seite findet er das Kernstück des Buches: Die "Visuelle Rechtschreibstrategie" des NLP. Was sich hinter dieser Ankündigung verbirgt, ist eine Leitkarte zur Erarbeitung einzelner Wortbilder, die eher verwirrt als zur Sicherheit führt. Damit, so betont der Verfasser, biete er dem Lernenden - im Gegensatz zu herkömmlichen Drill-Methoden - den "Prozesscharakter des Erlernens der Rechtschreibung als einer Strategie" an.

Aber gerade darum geht es bei der NLP Rechtschreibstrategie nirgendwo. Unter Verweis auf veraltete Hirndominanztheorien werden Rechtschreibschwierigkeiten als neurolinguistisches Problem allein am Kind festgemacht, obwohl im Text mehrfach von systemischer Vorgangsweise die Rede ist. Den psychischen Nöten eines Legasthenikers, der Art der psychischen Verarbeitung seiner andauernden Misserfolge sowie dem häuslichen und schulisch-methodischen Umgang mit seinem Problem widmet der Autor nur zwei knappe Seiten. Statt dessen preist er Muskeltestverfahren, kinesthetische Übungen und abenteuerliche Kombinationen von "Trainings der (akustischen) Ordnungsschwelle mit dem Training der Hemisphärendominanz" an.

Dass für die Verkaufszahlen bei Elternratgebern nicht kinderpsychologische, sondern marktpsychologische Qualitätskriterien ausschlaggebend sind, erweist sich an "Legasthenie als Talentsignal" von Ronald D. Davis (1995). Dank perfekter Medienpräsentation und allein schon aufgrund seines irreführenden Titels weckt das Buch bei Eltern die Hoffnung, ihr lernbeeinträchtigtes Kind sei ein - wenn auch von der Schule verkanntes - Genie. Das Lernproblem des Kindes deute auf ein besonderes Talent: "Das Talent der Legasthenie ist die Gabe der Meisterschaft".

Das zentrale Problem von Menschen mit Lese- und Rechtschreibproblemen sieht Davis in deren "Desorientierung". Diese könne aber bei bewusstem Einsatz eines von ihm postulierten Orientierungspunktes hinter dem Kopf überwunden werden. Das vorgeschlagene "Test"-Verfahren besteht darin, zu überprüfen, ob der Proband ein imaginiertes Stück Kuchen auf seiner Handfläche mit seinem "geistigen Auge", welches in einer seiner Fingerspitzen plaziert ist, betrachten kann. In der "Therapie" muss der Klient dann beispielsweise lernen, mit einer "Gruppe von Nervenzellen mitten im Gehirn, die die Desorientierung verursacht" umzugehen. Dies, indem er lernt, den "Schalter zum Abschalten dieser Zellen zu bedienen ..."

Inzwischen distanzieren sich sowohl der bayrische wie der österreichische Bundesverband Legasthenie (ÖBVL) von der Davis-Methode. In einer Stellungnahme (Kalmar/Schulz i.A. d. ÖBVL) wird festgehalten, dass Davis allgemein akzeptierte Forschungsergebnisse aus Psychologie, Sprachwissenschaft, Biologie und Medizin vollkommen außer Acht lässt. Er negiert neue pädagogische Ansätze ebenso wie sozialwissenschaftliche Erkenntnisse. Stattdessen greift er in seinen Thesen lediglich auf eigene Erfahrungen zurück.

Massenweise Bücher Auf dem weit gefächerten Markt der Legasthenie gibt es neben unzähligen Buchtiteln auch eine kaum noch überschaubare Vielzahl an Materialien. Vermehrt nehmen sich neuerdings auch Lerninstitute der Problematik an. Die Angebote werden durch geschicktes Marketing mittels bereitwilliger Unterstützung von Medien geradezu marktschreierisch angepriesen und auf Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer präsentiert.

Der "Psycho-Akustiker" (Eigendefinition) Fred Warnke preist beispielsweise simple Legasthenie-Therapeutik unter eklatanter Verleugnung wissenschaftlicher Standards an. In seinem Elternratgeber, herausgegeben vom Verlag für angewandte Kinesiologie (!) behauptet er, beim "Patienten mit Legasthenie" sei die Verarbeitung akustischer Eindrücke, und zwar die "innere Taktfrequenz zur Decodierung der Sprache" gestört, es bestehe ein "ursächlicher Zusammenhang zwischen zentraler Hörverarbeitung und Legasthenie".

Obwohl Warnke eingesteht, dass seine Thesen keineswegs wissenschaftlich abgesichert sind, verkauft er Geräte, die er "zunächst eher intuitiv entwickelt hat". Nach einer Kurzdiagnose wird gutgläubigen Müttern ein Geräteset zum stolzen Preis von DM 1.400 verabreicht: Ein simples Elektriker-Montagerohr, das auf der Hand balanciert wird, um die Auge-Hand-Koordination zu verbessern und den "Brain Boy", ein elektronisches Gerät, das optische und akustische Reize verknüpft. Damit soll das Kind lernen, seine "zentrale Fehlhörigkeit" zu behandeln. Mitgeliefert wird eine CD für die Hörtherapie und "Hemisphärentraining".

Alles klingt easy Es ist erstaunlich, wie Therapie-Mythen manchmal Jahrzehnte überleben, obwohl sich Hoffnungen in deren Wirksamkeit längst als Seifenblasen entpuppt haben. So tauchen in den Medien immer wieder Berichte über die vor mehr als 15 Jahren von der Amerikanerin Helen Irlen als Wundermittel propagierten "Irlen-Gläser" auf. Sie behauptete, Legasthenikern mit einer aus über 150 Farbtönen zusammengestellten Spezialbrille schnell und billig (DM 700) helfen zu können ...

Eine kritische Zusammenschau der an Kindern angewandten esoterischen Methoden und Mittel zeigt folgende Kernmerkmale und Gemeinsamkeiten: * Anbieter beziehungsweise Anwender setzen bei Diagnose wie auch bei Behandlung unter Verzicht auf eine Anamnese vorschnell allein am Kind als dem Symptomträger an.

* Eine ausführliche, nachvollziehbare Dokumentation von Befunden und wissenschaftliche Wirksamkeitskontrolle fehlen. Die positive Erfahrung am Einzelfall genügt - wie auch immer diese zustande gekommen sein mag.

* Vertreter dieser Methoden scheuen Fachdiskussionen. Vieles läuft auf der rein emotionalen Glaubens-Schiene ab und ist einem rationalen Zugang verschlossen. Kritiker werden auf der diffamierenden, persönlichen Ebene angegriffen.

* Häufig wird suggeriert, mit "alternativen" Methoden wäre Lernen immer einfach, schnell und lustvoll. Bewusst wird verschwiegen, dass Lernen meist auch Mühe und Arbeit bedeutet.

* Hinter humanitären Helfermotiven verbergen die Anbieter Geschäftsinteressen und nützen die uninformierte Hilfsbedürftigkeit verunsicherter und besorgter Eltern aus.

* Die aufgezeigten Trends verleugnen die Komplexität und Multikausalität kindlicher Lernstörungen.

Mit seinen falschen Versprechungen leistet der esoterische Psycho-Markt einen mehr als zweifelhaften Beitrag zur Verschleppung und Verschlimmerung von Lern- und Verhaltensproblemen bei Kindern. Er macht Eltern und Kinder abhängig, statt ihnen Mittel und Wege in die Hand zu geben, mit denen sie lernen können, selbstverantwortlich mit ihren Problemen umzugehen.

Es ist allemal einfacher, den Mythen und Glücksverheißungen aus der New-Age-Therapie-Ecke zu folgen, als sich in Machbarkeitsansprüchen zu bescheiden und die Mühen der Verstehenden Psychologie und der pädagogischen Praxis auf sich zu nehmen.

Der Autor ist Psychologe und Psychotherapeut sowie Lehrbeauftragter für Lern- undVerhaltensstörungen an derPädagogischen Akademie in Innsbruck.

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