"Heilt oder tötet Sie Ihr Krankenhaus?"

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Während in Österreich fieberhaft an einer Kur der kranken Kassen getüftelt wird, liegt in Großbritannien das staatliche Gesundheitswesen längst im Koma.

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Während in Österreich fieberhaft an einer Kur der kranken Kassen getüftelt wird, liegt in Großbritannien das staatliche Gesundheitswesen längst im Koma.

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Zwei britischen Ärzten erschien es wenig sinnbringend, sich auch noch in die Debatten über die Wartelisten für Operationen einzuschalten. Sind es landesweit nun knapp 50.000 Patienten, die mehr als zwölf Monate auf einen erforderlichen chirurgischen Eingriff warten müssen, oder doch um ein paar hundert weniger? Und wieviele hunderttausende Briten müssen zumindest mehrere Monate ausharren, bevor sie operiert werden können? Ist es der New Labour-Regierung gelungen, mit Notmaßnahmen für das staatliche Gesundheitssystem NHS (National Health System) die Wartelisten endlich zu verringern, oder sind diese Listen nur kürzer geworden, weil viele Patienten erst gar nicht mehr darauf gesetzt werden, also, wie es der Schattengesundheitsminister der oppositionellen Tories formulierte, "die Wartelisten für die Wartelisten" länger werden?

Die Zahlenjongliererei beschlossen die zwei Ärzte aus Kent anderen zu überlassen. NHS ist in der Krise, so viel steht unbestritten fest. Wer es sich leisten kann, lässt sich privat behandeln und operieren. Doch weil die Kosten in Großbritannien bis zu einem Drittel oder gar 50 Prozent über jenen im übrigen Europa liegen, entschieden sich die zwei zu einem besonderen Schritt. Sie gründeten eine Agentur, Global Op, die Kranke an Spitäler in Belgien oder Frankreich vermittelt, wo der bei ihnen nötige Eingriff sofort - und um vieles kostengünstiger - vorgenommen wird. Die Krankenhäuser auf dem Kontinent, versichert Norman Girolami, der Vorsitzende von Global Op, leisten hervorragende Arbeit.

Das britische Gesundheitssystem dagegen ist, wie Gesundheitsstaatssekretär Alan Milburn Ende Februar erneut diagnostizierte, "in den 40er Jahren stecken geblieben. Es ist zu starr, zu paternalistisch, zu bürokratisch. Unsere Herausforderung besteht darin, dieses System reif für das 21. Jahrhundert zu machen." Dies hatte das New Labour-Kabinett unter Premierminister Tony Blair freilich auch schon bei seinem Amtsantritt 1997 versprochen. Eine umfassende Reform des öffentlichen Sektors, zumal des in den 17 Jahren konservativer Regierungen unter Margaret Thatcher und John Major stark unterfinanzierten und vernachlässigten staatlichen Gesundheits- und Schulwesens, wurde damals zu einer absoluten Priorität erklärt. NHS, hieß es vor vier Jahren, solle nicht länger für "schmutzige Spitäler und endlose Verzögerungen" stehen.

Mangelnde Hygiene In einem Gesundheitsplan vom Juli 2000 wurden diese Ziele erneut bekräftigt. Mehr Spitalsbetten, eine Erhöhung der Zahl der Spitals- und praktischen Ärzte sowie von Krankenschwestern und vieles mehr wurde zugesagt. Doch zum Jahresende lautete die Bilanz: 22.000 Schwesternstellen sind vakant. Kurz danach ergab eine Studie, dass ein Drittel aller Spitäler den Basistest für Hygiene nicht bestanden. Bereits im Vorjahr hatte ein Bericht der staatlichen Kontrollbehörde gezeigt, dass rund 5.000 Patienten im Jahr an Infektionen sterben, die sie sich im Krankenhaus zugezogen haben, und weitere 10.000 an solchen Infektionen erkranken. Dies allein verursache Kosten von rund einer Milliarde Pfund im Jahr.

Eine erschreckende Häufung von "Kunstfehlern" mit oft tödlichen Folgen für die Patienten sowie der jüngste Organskandal haben das Vertrauen in das NHS weiter erschüttert. Von den 100.000 Organen, Körperteilen, Totgeburten und Föten, die landesweit in 210 Spitälern und medizinischen Instituten aufbewahrt werden, sei ein Großteil illegal entnommen oder zurückbehalten worden, musste der leitende Gesundheitsbeamte der Regierung im Februar zugeben.

Anlass für die Erklärung war die Entdeckung, dass im Alder Hey-Krankenhaus in Liverpool Kinderleichnamen bei Obduktionen systematisch die Organe entnommen worden waren. Wenn dann zeitgleich auf den ersten Seiten der Medien Bilder erscheinen, die zeigen, wie Leichname einfach in einer Spitalskapelle abgelegt wurden, weil die Kühlkammer voll war, dann ist nicht verwunderlich, dass die Aggressionen der Briten gegenüber den Ärzten nachweislich im Steigen sind.

Zwei Drittel aller praktischen Ärzte sind laut einer Studie von Ende Februar bereits von Patienten angegriffen worden. Die Waffen reichen dabei von Ziegeln über Krücken bis zu Messern und Möbelstücken. Manche Ärzte haben bereits Alarmknöpfe in ihrer Praxis installiert, während in Spitälern Überwachungskameras die Mediziner schützen sollen. Erklärt wird die Neigung zur Gewalt auf Seiten der Patienten mit der Frustration über Wartezeiten, aber eben auch die unzufriedenstellende Leistung der Ärzte. Kranke, weisen Untersuchungen nun nach, sind heute weitaus besser informiert als noch vor wenigen Jahren, sie kommen teils mit Ausdrucken aus dem Internet über Diagnostik und Heilmethoden und sind nicht mehr bereit, die Aussagen ihres Arztes - den sie sich im NHS nicht frei aussuchen können - widerspruchslos hinzunehmen. "Der Arzt als Gott war einmal, damals in den 40er Jahren, als sich Labour die Gründung des NHS zugute halten konnte", sagt ein Mediziner der furche.

Stiefkind Gesundheit Wie aber das System reformieren? Wie den Anschluss an EU-Europa finden, mit dessen Investitionen in den Gesundheitsbereich Großbritannien nicht mithalten kann? Lag der EU-Durchschnitt im Vorjahr bei acht Prozent des BIP (in Österreich 8,3 Prozent), betrug er hierzulange lediglich 6,7 Prozent. Bis 2006 sollen die Ausgaben im EU-Durchschnitt auf elf Prozent des BIP steigen, in Großbritannien aber nur auf acht Prozent. Vor den für April oder Mai erwarteten Neuwahlen - die allerdings infolge der jüngst ausgebrochenen Maul- und Klauenseuche verschoben werden könnten - verschärfen sich die Debatten um Reformszenarien für das NHS. Die Tories wollen den Privatsektor ausbauen und damit den staatlichen Gesundheitsbereich entlasten. Wer mehr als umgerechnet 800.000 Schilling Bruttoeinkommen im Jahr bezieht, solle überhaupt keinen Anspruch auf das NHS erheben können, lautet ein Vorschlag der Konservativen.

Arme-Leute-Service Die Idee einer Privatisierung des NHS getrauen sich derzeit selbst die Tories nicht offen auszusprechen - zu sehr sind die verheerenden Folgen der Privatisierung der Bahn in jüngster Zeit offenkundig geworden, als Sicherheitsmängel zu mehreren Unfällen mit einer Reihe von Toten führten. Doch manches, was im Umkreis der Konservativen nun mit Begriffen wie "Auslagerung" umschrieben wird, geht genau in Richtung eines Abbaus staatlicher Leistungen. Nur mehr "Grunddienste" anstatt "umfassender Leistungen" solle das NHS künftig erbringen, erklärte dieser Tage Michael Goldsmith. Der Vorsitzende der "Konservativen Medizinervereinigung" will lediglich seine persönliche Meinung kundgetan haben. Doch da er ein enger Berater von Tory-Chef William Hague ist, ließ die Reaktion von New Labour nicht auf sich warten. Goldsmith spreche die wahren Ideen der heutigen Konservativen aus, hieß es aus dem Blair-Kabinett. Diese Ideen seien noch extremer als die von Margaret Thatcher, "und alle wissen, welchen Schaden sie dem NHS zugefügt hat."

New Labour selbst will mit einem vor wenigen Wochen abgeschlossenen historischen "Konkordat" zwischen dem NHS und dem Privatsektor Abhilfe schaffen. Rund 100.000 NHS-Patienten sollen dadurch in privaten Krankenhäusern behandelt werden können. Verfechter eines verantwortlichen staatlichen Gesundheitswesens kritisieren aber diesen Schritt, der eben keine Reform des NHS darstelle. Dieses laufe immer mehr Gefahr, "ein armes Service für arme Leute" zu werden, es sei denn, New Labour entschließe sich zu einer Steuererhöhung oder der Einführung einer spezifischen Gesundheitssteuer. Laut einer in der "Times" veröffentlichten Umfrage vom Jahresanfang würden zwei Drittel der Briten solch eine Steuer akzeptieren. Denn sie möchten sich nicht länger fragen müssen, wie es die "Times" drastisch formulierte: "Heilt oder tötet Sie Ihr Krankenhaus?"

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