Heimat heißt: da sein, wo man ist

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Der ("schrecklich deutsche") Begriff Heimat weckt noch immer unterschiedlichste Erwartungen und Erfahrungen. Zehn Thesen der Psychologin Beate Mitzscherlich skizzieren, wie Heimat heute auf unterschiedlichste Weise erfahren wird.

Heimat ist mehr als der Ort, der sich mithilfe geografischer Koordinaten beschreiben lässt. Menschen äußern sich unbefangen zu "Heimat", erzählen von Wegen, Wäldern, von Kindheit und Wärme. Heimat ist dort, wo man sich aufhängt, sagt Franz Xaver Kroetz. Die Psychologin Beate Mitzscherlich hat sich mit "Heimat" auseinandergesetzt und stellt fest: es gibt nicht eine Heimat mehr, dafür aber viele mögliche Heimaten.

"Mein Ausgangspunkt war eine persönliche Annäherung an die Problematik von Heimat", sagt die Wissenschaftlerin als Referentin bei der Internationalen Pädagogischen Werktagung in Salzburg. Sie hat genau hinterfragt, ob Heimat nicht ein "schrecklich deutsches Thema sei" und ihre eigene Auseinandersetzung mit diesem Begriff genau dort begonnen, wo sie in ihrer Untersuchung auch bei den befragten Jugendlichen ansetzt: in ihrer Familie.

Kindheit, Jugend und Studium verbringt Beate Mitzscherlich in der DDR, zur Zeit der Wende ist sie 25 Jahre alt, hat ihr Studium abgeschlossen, steht im Beruf. Die Struktur ihrer eigenen Familie zeigte ihr schon früh, dass das Fremdfühlen in einer Umgebung, "die durchaus als Zuhause für Kinder gedacht ist," mehrere Aspekte hat. "Meine Mutter ist aus dem katholisch-schlesischem Milieu, mein Vater stammt aus einem böhmischen, ehemalig protestantischen Milieu, war ein im Staatsapparat angestellter Parteigenosse. Ich habe als Kind versucht, mich dazwischen zu platzieren. Als ich größer war, habe ich immer wieder die Seiten gewechselt; in der Pubertät habe ich gelernt, wie gut man mit dem Gegenteil provozieren kann: beim Vater hab ich Kirchenlieder gesungen, bei der Mutter kommunistische Sprüche abgelassen. Heute sehe ich das Gemeinsame der beiden Ideologien: da war ja auf beiden Seiten eine bestimmte Art von Gläubigkeit. - Als Kind litt ich unter dieser Spannung: entweder ist man ein junger Pionier oder man geht in den Religionsunterricht. " Beate Mitzscherlich hatte dienstags Religion und mittwochs Pioniere - "Heimat versprachen die einen im Sozialismus, die anderen beim himmlischen Vater."

Heimat ist ein subjektiv bestimmtes Verhältnis eines Menschen zu einer Umgebung. "Dieselbe Stadt, dasselbe Land, sogar dieselbe Familie können für den einen, der darin lebt, sehr wohl heimatlich sein, für den anderen hingegen überhaupt nicht."

Ein Keller kann als Lager-, Abenteuer- und Geheimraum, als Versteck und als Ort der Angst empfunden werden, je nach der Befindlichkeit und der Erfahrung des jeweiligen Betrachters. "Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, sie hätten sich für eine andere Heimat möglicherweise besser geeignet?", zitiert Mitzscherlich den Schweizer Schriftsteller Max Frisch, um ihr Thema, die prinzipielle Ambivalenz von Umgebungen, zu umreißen. Hier sei es besonders interessant, "welche Bedürfnisse realisiert, welche ausgeblendet, wie Bedürfnisse gegeneinander verhandelt oder miteinander integriert werden. Der Umgang mit den eigenen Bedürfnissen korrespondiert auch mit der Wahrnehmung, Bewertung und Begründung von Umgebungen."

Auf der Basis der Befragung von 40 Personen entwickelt die Psychologin im ersten Untersuchungsabschnitt ein Raster subjektiver Heimatkonzepte. Hier gibt es keine zwei Texte, "die dieselbe Beschreibung von Heimat geben und es gibt keinen einzigen, der nur eine Heimat bzw. eine einzige Bedeutung von Heimat beschreibt. Heimat ist also etwas Zusammengesetztes und sie setzt sich für die verschiedenen Menschen auch verschieden zusammen." So nennt ein 70-jähriger Mann Königsberg seine Heimatstadt, beschreibt aber, seit 50 Jahren in Chemnitz zu Hause zu ein. Er bezeichnet seinen christlichen Glauben als innere Heimat, stellt die Erzgebirgsfolklore in Nähe von Heimat.

"Heimat ist oben"

Die folgenden zehn "Heimat-Themen" ergeben sich aus den vorgefundenen Vorstellungen von Heimat:

Heimat als familiäre Kindheitsumgebung, Heimat als Kulturlandschaft, Heimat als aktuelles Netzwerk, Heimat als Erlebnis und Gefühlszustand, Heimat als innererer Entwurf, Heimat als politisch-ideologische Konstruktion, Heimat als Folklore, Heimat als Verlusterfahrung, Heimat und Fremde, Heimat als Vielfalt.

Kaum ein Heimatbild ist so bunt und laut wie das folkloristische: "Hirsch, Wald (Tannen), Wandern, Zaun und Garten, Tracht, Brot und Essen, Kordeln, Licht, Fest, Gesang, der Wanderer, schöne Mühsal der Arbeit, Sonnenauf- und -untergang ..." In diesen Symbolen verdichten sich menschliche Bedürfnisse: "Sie wirken weitgehend unbewusst und sind dabei auch Ausdruck ebenfalls unbewusst bleibender kollektiver Zusammenhänge."

Heimat wird auch als ein Zustand von Vollkommenheit beschrieben, der auf dieser Welt nicht erreicht werden kann: "Meine Heimat ist dort oben" ist nur ein Zitat mit sehr langer Tradition. "Von den himmlischen Wohnungen" träumten viele, die im Diesseits unbehaust waren. Unheimatliche Zustände im Diesseits lassen die Anziehungskraft der Jenseits-Utopien wachsen. Mitzscherlich bezieht sich bei ihrer Standortbeschreibung auf Ernst Bloch, dieser fordert in seinem Buch "Das Prinzip Hoffnung" "den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war."

Hier ortet Mitzscherlich auch Missbrauch der Heimatsehnsüchte: die Sehnsucht nach Utopien lässt die wirklichen Orte des Lebens verwahrlosen. Die fortschreitende Globalisierung führe weiters zu einer "Scheinvertrautheit" mit vielen Orten, es gebe ein Übermaß an zeitlichen, räumlichen und sozialen Beziehungen. Dazu meint der französische Ethnologe Marc Auge: "Unsere Hypothese lautet nun, dass die Übermoderne Nicht-Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und ... die alten Orte nicht integrieren." So stehen mit Emotionen überhäufte, mit Erinnerungen durchtränkte Orte von Heimat mittlerweile viele Nicht-Orte, Räume des Abgeschobenwerdens zum Gebären, Leiden und Sterbens, das Unvertraute und niemals Vertrautseiende gegenüber.

Mitzscherlich betont im Gespräch die übermächtige "Anwesenheit von Gefühlen" im Zusammenhang mit Beheimatung: "Emotion ist in Verbindung mit Heimat sehr wichtig. Man muss eine Beziehung zur Umgebung, zu den Menschen haben. Sentimentalität bedeutet aber auch etwas mehr, etwas Zweites: das Verklärende, und das kann gefährlich werden. Viele sagen, dass früher alles schöner gewesen sei. Das ist regressiv, dazu habe ich eine ironische Haltung und versuche auch, dieses Regressive zu unterbrechen. Ich versuche, die kitschigen Bilder von Heimat zu stören mit den Bildern wie unser Leben wirklich aussieht. Sind das nicht auch Dinge, die man lieben und schätzen kann? Man soll die Traumbilder von Heimat aufgeben und das schätzen, was man leben kann."

Mitzscherlich führt an zehn Einzelfallstudien -w junge Erwachsene und Jugendliche mit unterschiedlichen Familienstrukturen, nationaler Herkunft - vor, welche Bewältigungsstragien in Bezug auf Heimat angewendet werden. "Beheimatung ist auch als Problem immer individuell; auch wenn dahinter allgemeine kulturelle Prozesse beispielsweise von Modernisierung, Ost-West-Transformationen oder Migration stehen, werden diese doch durch konkrete individuelle, beispielsweise familiäre oder außerfamiliäre soziale Zusammenhänge gefiltert, vermittelt, kompensiert oder auch verstärkt."

Kulturelle Konflikte

Beheimatung ist ein Problem unterschiedlichen Ausmaßes für die Jugendlichen, wobei der erste Problemkreis in Bezug zu den Erfahrungen familiärer Desintegration steht, es sich also um biographische Konflikte mit der Herkunftsfamilie handelt. "Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Jugendlichen, die die Herkunftsfamilie prinzipiell als sicheren Ort und Rückhalt für ihre Entwicklung erfahren haben und Jugendlichen, für die die familiäre Desintegration selbst als konflikthaft und belastend erfahren wurde."

Als zweiten Problemkreis nennt Mitzscherlich "Erfahrungen außerfamiliärer sozialer Desintegration" unter Gleichaltrigen. Daneben spielen Ortswechsel eine auslösende, eskalierende Rolle: "Es geht dabei darum, dass die Einstellung auf einen neuen sozialen, kulturellen oder/und sprachlichen Kontext über längere Zeit als die eigenen Kompetenzen überfordernd erfahren wird."

Kulturelle Konflikte als weitere Ursache von Beheimatungsproblemen spielen nicht nur bei Jugendlichen multikultureller Herkunft eine Rolle. Hermann gehört zur dritten Generation einer Gastarbeiterfamilie, er ist in Deutschland geboren, lebt in einer Kleinstadt und meint: "Es kommt nicht auf die Nationalität an, sondern auf den Charakter."Er sieht vor allem die wirtschaftliche Basis als Grundlage für die Anerkennung sowohl in der deutschen wie in der türkischen Gesellschaft: "Weil hier in dieser Welt, wenn du Geld hast, kannst du alles machen. Wenn du kein Geld hast, bist du nichts." Hermann nennt als Heimat Deutschland, vielleicht aber auch nur Oberfranken.

Diese häufig zitierte Innerlichkeit in Zusammenhang mit dem "diskursiven Knoten" Heimat sei Ausdruck einer kulturellen Entwicklung, "die mit der Auflösung, Veränderung und Pluralisierung eindeutig abgrenzbarer, überschaubarer und unumgänglicher Lebenswelten zu tun hat." Je weniger die sozialen Einbindungen vorhanden sind, umso stärker wird Heimat zum subjektiven Problem. "Es gibt Leute, für die das Thema Heimat so schmerzbesetzt ist, das sie lieber gar nicht darüber reden. Das ist auch eine Möglichkeit mit Heimat klar zu kommen.

Daneben gibt es Menschen, für die ist Heimat etwas Selbstverständliches, die haben wenig Reflexionsbedarf. Es ist selbstverständlich, man muss darüber nicht reden," reflektiert die Psychologin. Dabei sei die soziale Kontrolle in engen Heimaten enorm hoch, auch in idyllischen Heimaten könne man erbarmungslos ausgegrenzt werden. Zu den sogenannten "Patchwork-Familien" meint Mitzscherlich: "Kinder wachsen heute in schnell wechselnden Verhältnissen auf. Das Kind ist in diesem Dreieckssystem Vater - Mutter -Kind verstrickt, man muss mit diesen Menschen auskommen, es gibt keine Alternativen.

Mitzscherlich setzt ihre persönlichen Schlussfolgerungen aus der Untersuchung poetisch: Heimat ist an vielen Orten. Heimat heißt: da sein, wo man ist. Heimat ist, wo wir leben.

Buchtipp

Heimat ist etwas, was ich mache. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozeß von Beheimatung. Von Beate Mitzscherlich. 2. Aufl. Herbolzheim: Centaurus-Verlag 2000. öS 350,30/e 25,46

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