Heimweh nach Sibirien

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Russland sorgte in den letzten Wochen für viele negative Schlagzeilen. Wer jedoch länger dort lebt, entdeckt ein ganz anderes Russland - jenseits von Politik und Katastrophen.

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Russland sorgte in den letzten Wochen für viele negative Schlagzeilen. Wer jedoch länger dort lebt, entdeckt ein ganz anderes Russland - jenseits von Politik und Katastrophen.

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Wir standen in Moskau am Flughafen und warteten. Das Schneetreiben wurde immer dichter, und es war kalt. Zufrieden sah ich meinen Koffer im Bauch der Tupolev verschwinden. Es hatte viel Mühe und einige Rubel Schmiergeld gekostet, das schwere Gepäckstück mit meiner Kleidung, Unterrichtsmaterialien und Büchern - Lesestoff für fast ein halbes Jahr in Sibirien - zu befördern. Hoffentlich werde ich auch abgeholt in Ulan-Ude, dachte ich, als wir schließlich einsteigen durften und ich zusammen mit einer hilfsbereiten Burjatin mein Handgepäck die vereisten Stufen hinauf schleppte, ohne zu ahnen, was in den nächsten Monaten auf mich zukommen wird. Ich war noch nie zuvor in Russland.

Das Innere des Flugzeugs bestätigt gleich ein Vorurteil: die Sitze sind schon recht schäbig und abgewetzt, und nach einem Blick in die Toilette wende ich mich schaudernd ab. Von irgendwoher kommt ein eiskalter Luftzug. So oder so ähnlich hatte ich mir die Reise ja vorgestellt, ich schmunzle bereits ein wenig in mich hinein, als mich meine Sitznachbarin in tadellosem Deutsch anspricht: und das sollte nicht die letzte Überraschung bleiben. Der Rosendorfer-Band in meiner Hand hat mich verraten, da nützt es auch nichts, wenn ich - optisch - selbst in Wien manchmal für eine Russin gehalten werde. Meine Nachbarin, eine Geschäftsreisende aus Burjatien, freut sich, wieder einmal ein wenig Deutsch sprechen zu können, sie sei völlig aus der Übung - da bin ich allerdings nicht ihrer Meinung. Als wir über den Baikal fliegen, ist es leider noch völlig dunkel, gerne hätte ich schon aus der Luft einen ersten Blick auf das "Heilige Meer" erhascht, das jetzt, Anfang Februar, eine dicke Eisschicht bedeckt.

In Ulan-Ude hat es minus 30 Grad. Willkommen in Sibirien! Aber die Trockenheit der Luft täuscht über die Kälte ein wenig hinweg, und es scheint die Sonne, wie immer. Ich habe nicht einmal das Bedürfnis, die Handschuhe aus den Taschen zu fischen, als ich das Handgepäck zum Flughafengebäude ziehe. Und hier empfangen mich Katja und Anatoli, der Vorstand des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur. Katja erinnert in ihrem taillierten Mantel mit Pelzkragen und Pelzmütze an "Liebesgrüße aus Moskau" oder "Doktor Schiwago". Die nächsten Monate werde ich bei ihr und ihrer Großmutter wohnen - und verwöhnt werden. Draußen im Wagen wartet der Chauffeur des Rektors, an end- und im Winter ein wenig trostlosen Datschavierteln vorbei fahren wir in die Stadt. Durchs Autofenster sehe ich zum ersten Mal den größten Leninkopf der Welt, der streng den Sowjetplatz überblickt. Man hat die kommunistischen Denkmäler und Statuen nicht beseitigt und auch die Straßennamen nicht geändert. Die UdSSR ist längst Geschichte, aber diese Spuren der Vergangenheit erinnern noch an sie.

Spuren der Sowjets Zu Hause erwartet uns die Babuschka und gibt zu verstehen, dass ab nun auch ich hier zu Hause bin, selbst wenn unsere Kommunikation ohne Katjas Vermittlung (sie ist Englischlehrerin) zunächst sehr begrenzt ist.

Wir wohnen in einer Plattenbausiedlung Modell "real existierender Sozialismus", der man zwar das Alter, aber keineswegs die Lebensqualität ihrer Wohnungen ansieht, und es ist nicht sehr weit ins Zentrum. Auf dem Sowjetplatz haben sich mittlerweile etliche Menschen versammelt, um das burjatische Neujahrsfest zu feiern. Lenin ist umringt von Eisskulpturen: Gulliver, die Bremer Stadtmusikanten und die buddhistischen Tierkreiszeichen; die Leute stehen in Gruppen beisammen und plaudern oder schlittern quietschend vor Vergnügen über das Eis, Erwachsene wie Kinder. Und alle in Pelzmänteln und -mützen. Tierschützer hätten hier viel zu tun, aber angesichts des sibirischen Klimas wohl kaum Resonanz in der Bevölkerung. Verständlicherweise.

Der Kollegenkreis an der Universität nimmt mich sehr herzlich auf. Als ich Lena begegne, der Bibliothekarin, müssen wir lachen: die "sehr geehrte Frau Olsonova" der diversen E-Mails ist kaum älter als ich, keine 30. Schenja, die Institutssekretärin, die eben im letzten Semester studiert, zeigt mir die ganze Universität samt unterirdischen Schleichwegen, und meine Kollegin Jaroslava ist mir von Anfang an eine gute Freundin. Und alle sprechen ausgezeichnet Deutsch, selbst die Studenten und Studentinnen sind sehr gut. Ich bin die erste Praktikantin aus Österreich, geschickt von Österreich-Kooperation (ÖK) und Wissenschaftsministerium, ich kann unterrichten, was und wie ich will, dem bisher sehr an Deutschland orientierten Lehrstuhl kleine Mosaiksteinchen eines Österreich-Bildes anbieten: zum Beispiel Ernst Jandl, "Zeit im Bild", Kottan und - die furche. Der Unterricht ist direkt ein Vergnügen. Die Studenten und Studentinnen freuen sich über jede Gelegenheit, mit Muttersprachlern reden zu können und interessieren sich für alles. Nicht selten werde ich mit der politischen Wende in unserem Land konfrontiert: ist Österreich nun faschistisch geworden? Die russischen Nachrichten haben den Eindruck erweckt, als herrschten in Wien bürgerkriegsähnliche Zustände. - Aber die weitaus wichtigere Frage lautet: wie sind die jungen Menschen in Österreich, so wie wir? Ja - eigentlich schon. Vielleicht nicht so brav und freundlich, aber in manchen Dingen selbstständiger. Das russische Universitätssystem ist sehr verschult. Es gibt festgelegte Stundenpläne, und das Studium dauert exakt fünf Jahre. Für alle. Nebenbei zu arbeiten ist so gut wie unmöglich. Außerdem gibt es sowieso kaum Jobs.

Nach ein paar Wochen in Burjatien regt sich mein schlechtes Gewissen. Ich habe viel unterrichtet, viel gesehen von Ulan-Ude und Umgebung, ich habe eine Menge Leute kennengelernt (und mit ihnen deutsch oder englisch gesprochen), ich bin am Baikal gewesen, über die Eisdecke spaziert, aber meine Russisch-Lehrbücher sehen nach wie vor neu und nahezu unbenützt aus, ich habe das Gefühl, kaum Fortschritte zu machen.

Doch eine Reise nach Krasnojarsk, Novosibirsk und Irkutsk, das Organisieren von Zugtickets und Hotelzimmern, bedeutet Ende März den nötigen "Sprung ins kalte Wasser". Die Transsibirische Eisenbahn ist der beste Sprachkurs, und ich bin um eine Erfahrung reicher: Erstmals merke ich an mir selbst, wie ungelenkter Spracherwerb funktioniert, und wie mühelos eigentlich, schnell und effektiv.

Sobald in der Landessprache einegewisse kommunikative Kompetenz erreicht ist, wird der Alltag gleich viel interessanter, unmittelbarer, vielseitiger. Selbstständigen Entdeckungsreisen und neuen Bekanntschaften steht nichts mehr im Wege, sogar die ewigen Schwierigkeiten mit der russischen Bürokratie (der österreichische Amtsschimmel ist harmlos dagegen!) sind leichter zu meistern, und die Tarifverhandlungen mit privaten Taxifahrern werden zu einem Sport, den man in Wien schmerzlich vermissen wird.

Blitzblanke Iljuschin Langsam aber sicher kommt der Frühling. Täglich scheinen neue Straßencafes aus dem Boden zu sprießen, Land und Leute blühen sichtlich auf, genießen Geselligkeit im Freien. Man macht Ausflüge in die Taiga, grillt Schaschliki im Grünen, es wird wärmer und wärmer und schließlich heiß. Intensiveres Leben. Sommer. Ich treffe meinen Freund in Irkutsk. Wir streifen kreuz und quer durch die Stadt, trinken erfrischenden Kwass auf der Straße, machen Urlaub am Baikal. Und dann, nach ein paar letzten Tagen in Ulan-Ude heißt es Abschied nehmen und den Heimweg antreten. Diesmal mit weniger Gepäck: die 20 Kilo Bücher gehen mit der Post nach Wien, billig, verlässlich (ja, tatsächlich!) und bequem. Und wir reisen luxuriös: mit der Bahn erster Klasse nach Irkutsk - die acht Stunden Fahrt escheinen uns viel zu kurz - und dann nach Europa mit einer blitzblanken "Iljuschin" der Aeroflot, in der es nur fußfreie Reihen zu geben scheint.

Ja, auch das ist Reisen in Russland. Aber ach, zwei Seelen wohnen in meiner Brust - es ist so weit bis nach Ulan-Ude! Und wer einmal Sibirjak geworden ist, bekommt leicht Heimweh nach Sibirien.

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