Heute schon gelogen? Und wie oft?

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Die Furche-Herausgeber

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„Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?“, fragte der ORF die Kandidaten Rosenkranz und Gehring (nicht aber Heinz Fischer – Präsidenten lügen nicht). Eine peinliche Frage. Sagt man ehrlich und bibelfest: „Erst heute – siebenmal siebzig Mal“, ist politisch alles verloren. Sagt man aber: „Schon lange nicht“, ist es eine Lüge. „Muss man lügen, um in der Politik zu bestehen?“, wollte der Moderator noch wissen. „Aber nein“, sagten beide Kandidaten. Schon wieder gelogen?

Kulturleistung und Strategie

Vor Jahren hatte ich ein TV-„Philosophicum“ über die Lüge zu leiten. Es war eine deprimierende Erfahrung. Die Experten verrieten: Wir alle lügen nicht nur aus Not oder Eigennutz, sondern auch aus Freude. Das Schwindeln, Flunkern, Verstellen, Beschönigen ist Produkt menschlicher Evolution; ist Kulturleistung und eine unverzichtbare Strategie. Der Theologe in der Runde kämpfte tapfer – am Ende aber blieb nur die „Lüge aus schädigender Absicht“ als unmoralisch übrig.

Muss die Politik lügen? Vermutlich ja. Aber: Lügt sie zu oft, zu erkennbar – und gefährdet so unser Grundvertrauen? Wohl auch. Jüngste Beispiele:

• Warum muss die ÖVP ihre Verweigerung bei dieser Präsidentschaftswahl jetzt damit begründen, sie habe sich „nicht von der Wirtschaftskrise ablenken lassen“ wollen?

• Warum muss der Amtsinhaber jetzt sagen, er sei dem TV-Duell deshalb ferngeblieben, weil er „nicht über Gaskammern diskutieren“ wollte?

• Warum muss Frau Rosenkranz ihren selbstverschuldeten Super-GAU in Sachen NS-Verbotsgesetz jetzt als „linkslinke Hetze“ umdeuten?

Oder – um über Wahlkampf-Zwänge hinauszuschauen:

• Warum mussten unsere Minister und Bischöfe dem für Dienstag erwarteten (und dann durch Flugverbot verhinderten) Exil-Premier der Tibeter (s. S. 9) mitteilen, dass sie – ach, der übervolle Kalender! – leider gar keine Zeit für ihn hätten? Statt zuzugeben, dass der Druck Pekings einfach zu groß geworden ist?

Ich entsinne mich der Krämpfe, als der Dalai Lama vor drei Jahren hier war. Waldheim, Klestil und Kardinal König hatten ihn einst empfangen. Dann aber war China zur Großmacht aufgestiegen. Also: Keine Treffen mehr mit dem Tibeter („Terminprobleme“). Bis just Kanzlerin Merkel den Nobelpreisträger mutig zum Gespräch lud. Welch’ Peinlichkeit am Ballhausplatz: Kanzler Gusenbauer musste den Dalai Lama nun doch vor dessen Abflug zum „early morning tea“ laden. „Ganz privat“, wie es zur Beruhigung Pekings hieß – und dann war es doch im Kanzleramt.

Echte „Volksvertreter“

Politiker haben es schwer. Manipulation von Information und selektives Gedächtnis gehören zum Geschäft. Freilich, gerade hier sind Politiker echte „Volksvertreter“. Nie zuvor haben uns Wahlplakate sosehr „Werte“ angepriesen wie eben jetzt. Aber welche? „Wahrhaftigkeit steht als Wert in keinem Parteiprogramm“, sagte der Kulturhistoriker Manfred Wagner diese Woche im Radio. Und: „Die Lüge ist heute der normale Status unseres Umgangs.“ Vielleicht sollten wir tatsächlich wieder mehr über Werte diskutieren. Auch über mehr Mut zur Wahrheit. Nicht nur in der Politik.

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