Himmel des Rausches und Hölle der Sucht

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Waren Sie schon einmal im Paradies?", lautete die Gegenfrage, die mir einmal ein schwer gezeichneter Heroinist auf meine Erkundung nach den Gründen für seine schwere Sucht stellte. Er war abgemagert, verwahrlost, von HIV und Hepatitis geschwächt, voll blauer Flecken und Spritzenabszessen, am ganzen Körper zerstochen, verelendet und sterbenskrank. Auf meine verlegenes Antwortengestammel erwiderte er nahezu triumphierend: "Sehen Sie -ich schon. Jedesmal, wenn ich mir einen Schuss gebe." Und er beschrieb mir die tiefe Ruhe, den unendlichen Frieden, den er im Opiatrausch für einige Zeit finde, das Freisein von jeglichem Schmerz und Kummer. Alles andere sei dann nicht mehr wichtig, kein Problem mehr existent, die Welt herum uninteressant, die Normalität werde zur Hölle. "Und deren siebenter Kreis", so fügte der nicht ungebildete Mann unter Anspielung auf Dantes Inferno hinzu, "ist der Entzug und die Angst davor."

"Alkohol ist vergiftete Muttermilch"

Die Begriffe Himmel und vor allem Hölle werden außerhalb des Religiösen kaum irgendwo so häufig gebraucht wie im Zusammenhang mit Sucht: Drogen als Himmelsgabe, göttliches Elixier auf der einen -Heroin-, Spiel-,Entzugshölle auf der anderen Seite. Rausch und Sucht sind ein Modell des Zusammenspiels, ja der Zusammengehörigkeit von elysischem Glück und quälendem Siechsein, aber auch für die Limitierung dieser beiden Pole durch den jeweils anderen. Die Sucht und ihre Qualen scheinen am besten geeignet zu sein, ein zeitgemäßes, greifbares Bild dessen liefern zu können, wie man sich heute die Hölle konkret vorstellen kann.

Da Drogen immer auch Medikamente sind, scheint die Selbstheilungshypothese der Sucht eine der besten zur Erklärung dieses komplexen Phänomens. Der Süchtige nimmt die Droge primär nicht aus Sucht, sondern zur Selbstbehandlung der basalen Störungen: Minderwertigkeitsgefühle, Kontaktprobleme, Angst, Depressivität, Burnout, Gekränktheit oder Sinnlosigkeit. Und da wirken Drogen sehr gut, allerdings nur für kurze Zeit und um den Preis der Gewöhnung.

In der Psychoanalyse wurde die ambivalente Einschätzung auf den Punkt gebracht: "Alkohol ist vergiftete Muttermilch." Er ist imstande, ein Urbedürfnis des Menschen, die Suche nach himmlischer Geborgenheit, zu erfüllen, gleichzeitig aber seine Existenz zu vergiften und ihn in die Hölle der Sucht zu stürzen.

Der Rausch beschäftigt die Philosophie, auch die Theologie, die Physiologie und die Psychiatrie gleichermaßen. In manchen Religionen ist er die Brücke zum Himmlischen. Für Friedrich Nietzsche war der Rausch ein Mittel, soziale und religiöse Fesseln zu sprengen: "In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch", schreibt er in der "Geburt der Tragödie". Und an anderer Stelle, in den "Streifzügen eines Unzeitgemäßen", seinen kreativen Effekt betonend: "Damit es Kunst gibt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch."

Im Mittelhochdeutschen haben die Begriffe "rüsch","riuschen" mit ungestümen Bewegungen zu tun. Im Drogenjargon nennt man den Rausch einen Trip, eine Reise, und betont damit das Abenteuerliche, das auf einen zukommende Unbekannte, jedenfalls das Außergewöhnliche, das Entrücken, die Ekstase. Ekstase ist an sich ein Rausch, ein "Rausch der Sinne", ein besonders intensiver, tranceähnlicher psychischer Ausnahmezustand, eine dramatische Veränderung des Bewusstseins, welches von den Betroffenen als "erweitert" oder "erhöht" erlebt wird. Der Historiker Peter Dinzelbacher beschreibt Ekstase als "Heraustreten der Seele aus dem Körper bei gleichzeitiger Suspendierung der Sinneswahrnehmungen" und einen "rauschartigen Erregungszustand mit gemindertem Bewusstsein".

Entzugssymptome sind Ausdruck, dass viele körperliche und psychische Funktionen durch die Drogen ins Ungleichgewicht geraten sind. Sowohl der somatische als auch der seelische Organismus stellen sich durch den Dauerkonsum auf ein anderes Niveau ein. Lässt deren Wirkung nach, beispielsweise ihr beruhigender Effekt, treten Gegenregulationen in Form von Unruhe, Nervosität und Zittern auf. Das Spektrum der Entzugssymptome stellt gleichsam das Gegenteil der Drogenwirkung dar. Wenn eine Droge zu euphorischer Stimmung führt, äußert sich der Entzug durch Depression. Der Schlaf anstoßende Effekt eines Beruhigungsmittels wandelt sich in hartnäckige Schlaflosigkeit, die Entspannung mündet in Nervosität, die gleichgültige Ruhe geht in permanente Gereiztheit und Aggressivität über.

Sucht als "Siechtum"

Im Zentrum jeglichen Entzugs steht das Verlangen nach der Droge oder nach dem süchtigen Verhalten, das sogenannte "Craving". Dieses kann äußerst quälenden Charakter annehmen und mit seelischen, manchmal sogar mit körperlichen Schmerzen verbunden sein. Das Verlangen nach der Suchtwirkung hat sich in einen immer schwerer beherrschbaren Drang und letztlich in einen nicht einzudämmenden Zwang verwandelt. Dieser wird so stark, dass der Süchtige Drogen einnehmen muss, dass er sein Bedürfnis nicht aufschieben und nicht verlagern kann, dass er nur noch eines im Kopf hat: den nächsten Schluck, einen unmittelbaren Schuss, eine schnelle "Line", eine rollende Kugel oder das Angebot eines Großkaufhauses.

Der mehrdeutige und schwer zu definierende Begriff der Sucht stammt vom germanischen Wort "suhti" und ist in seiner Wurzel verwandt mit "siechen" und "Seuche". Tatsächlich ist der Suchtprozess in vielerlei Hinsicht ein "Siechsein" und erfüllt alle Kriterien einer Krankheit mit ihrer somatischen, psychischen und sozialen Dimension, einer medizinischen Hölle. Verbunden mit zunehmendem Zwang, etwa zur Drogenbeschaffung und Steigerung der Dosis, und Verlust der Selbstkontrolle gehen Selbstbestimmung und Freiheit verloren. Der destruktive Prozess führt zu Störungen und Schäden im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich und trifft damit sämtliche Dimensionen des Krankseins: den Körper, der durch die toxische Wirkung von Drogen oder durch Erschöpfung infolge exzessiven Verhaltens geschädigt wird; die Psyche, welche durch Schwächung der kognitiven Funktionen und Veränderung der Emotionalität ihr "Wesen" ändert; schließlich das soziale Leben, das durch Probleme in Partnerschaft und Familie, durch Nachlassen der beruflichen Leistung, durch Vernachlässigung der zwischenmenschlichen Beziehungen und letztlich durch äußere Isolation und innere Vereinsamung geprägt wird.

Heilkraft ohne Suchtkraft?

Die entscheidende Frage, die sich durch die Drogendiskussion zieht, ist jene, wie man den Rausch ohne den Preis der Sucht bekommt und ob es den kontrollierten Konsum für alle gibt. Einig sind sich alle, dass das Ziel der kultivierte, kontrollierte Umgang sein müsste. Aber ist es möglich, so frage ich, die himmlischen Seiten der Drogen zu genießen, ohne die höllischen erfahren zu müssen? Kann man bei den wundersamen Drogen die Heilkraft von der Suchtkraft überhaupt trennen? Kann man das ideale, nebenwirkungsfreie Rauschmittel, das keine Suchtpotenz mehr hat, entwickeln? Und werden alle Menschen, auch die unreifen und benachteiligten, die depressiven und traumatisierten, stärker als dieses Psychopharmakon sein?

Bei globaler Betrachtung der psychischen Befindlichkeit der Menschen erleben wir eine Art von nicht erklärbaren Gegenregulationen: Sorgenfreiheit und unendliches Vergnügen -Zunahme der Depressionen; Sicherheit von Anfang an -Zunahme der Angst; Freiheit als höchstes Gut - Zunahme der Süchtigkeit. Zeigt uns die Hölle der Sucht die Grenzen des Ekstatischen auf? Sorgt sie als Regulativ vielleicht dafür, dass das Leben nicht zu einem einzigen Rausch wird? Gibt es diese Gegenregulation auch gegen die Tendenz, alles und jedes im menschlichen Leben chemisch zu regulieren, Stimmung und Aktivität, Gesundheitsund Glücksgefühl, Schlaf und Wachheit, sexuelles Erleben und Leistungsfähigkeit?

Wenn wir also bald in einer Welt leben, die nicht trotz, sondern nur noch wegen der Drogen funktioniert: Ist das dann der Himmel -oder ist es die Hölle?

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