hörgerät - © Pixabay

Hörbehinderung im Kindergarten: Die Welt mit Händen in Worte fassen

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Menschen mit einer Hörbehinderung waren bislang von elementarpädagogischen Berufen ausgeschlossen. Nun wurde die neue Schule für Kindergarten-Assistenzpädagogik der Stadt Wien für sie geöffnet. Ein Besuch in einem Universum voll Bildern und Gebärdenpoesie.

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Menschen mit einer Hörbehinderung waren bislang von elementarpädagogischen Berufen ausgeschlossen. Nun wurde die neue Schule für Kindergarten-Assistenzpädagogik der Stadt Wien für sie geöffnet. Ein Besuch in einem Universum voll Bildern und Gebärdenpoesie.

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Kinder reden gern mit Händen und Füßen: Sie winken voll Freude, ziehen ungeduldig an Jacken oder zappeln vor Langeweile mit den Beinen herum. Doch die Gebärden, die der kleine Bub in der Wiener Gussenbauergasse mit seinen Händen, Armen und Lippen vollführt, sind mehr als bloß Ausdruck seiner emotionalen Befindlichkeit: Sie sind sein Weg, die Welt zu begreifen und in Worte zu fassen. Der gehörlose Dreijährige, nennen wir ihn Anton, ist Native Signer, die Gebärdensprache ist also seine Erstsprache. Wenn andere Mütter und Väter ihrem Kind laut und deutlich einen Begriff vorsprechen, demonstrieren Antons ebenfalls gehörlose Eltern ihrem Sohn die passende Gebärde. Entsprechend leicht geht dem Buben alles von der Hand. "Es ist unglaublich, wie flott er ist", gebärdet Christian Fischer begeistert, während eine Dolmetscherin ihn für die FURCHE übersetzt.

Zwei Wochen lang absolviert der 35-Jährige hier, im städtischen Kindergarten in der Gussenbauergasse in Wien-Alsergrund, sein erstes Praktikum. Bislang durften gehörlose oder schwerhörige Menschen wie er lediglich Hilfsarbeiten in Kindergärten übernehmen. Seit diesem Herbst steht ihnen aber auch die Schule für Assistenzpädagoginnen der Stadt Wien offen, die im Vorjahr an der "Bildungsanstalt für Elementarpädagogik"(BAfEP -früher BAKIP) im 21. Bezirk eingerichtet wurde. Fünf hörbeeinträchtigte Frauen - und Christian Fischer - sind nach einer Eignungsprüfung in die bilinguale Klasse aufgenommen worden. Ihre Dolmetschbegleitung wird von Sozialministeriumservice und AMS finanziert.

Bilingual mit Lauten und Gebärden

Nicht nur für Fischer ist das ein großes Glück, auch für seine Mentorin Karin Back. Sie selbst hat sich ihren Traumberuf noch mit Hilfe ihrer Eltern erkämpfen müssen. Ein Jahr lang hat sich die gehörlose Frau nach der Matura an der damaligen BAKIP um eine Aufnahme ins Kolleg für Kindergartenpädagogik bemüht. Heute ist sie Österreichs einzige gehörlose Elementarpädagogin - und als solche Garantin dafür, dass in der Gussenbauergasse als bundesweit einzigem Kindergarten durchgehend bilingual in Lautsprache und Österreichischer Gebärdensprache (ÖGS) gearbeitet wird.

Selbst offiziell eine Gruppe leiten darf Back freilich nicht. Argumentiert wird dies damit, dass Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung ihrer umfassenden Aufsichtspflicht nicht nachkommen könnten. Auch Fischer und seine Kolleginnen sollen und dürfen als Assistenzpädagoginnen die gruppenführende Kindergartenpädagogin nur unterstützen. Für den Österreichischen Gehörlosenbund ist das nicht genug: Er würde sich auch gehörlose Elementarpädagoginnen mit Gruppenverantwortung wünschen. Auch Karin Back sieht hier die Zukunft. De facto ist sie freilich in der Gussenbauergasse längst eine Säule des Systems. 40 Kinder zwischen drei und sechs Jahren werden hier in zwei Gruppen von je einer Elementarpädagogin, einer Sonderkindergartenpädagogin und einer Native Signerin gefördert. Zwölf der Kinder sind selbst hörbeeinträchtigt, dazu kommen Geschwisterkinder sowie vier hörende Kinder gehörloser Eltern. Aber auch Familien ohne Hörhandicap schicken ihre Kleinen hierher. Vielleicht ist es das wertschätzende Klima, vielleicht ist es das anschauliche Lernen durch Gebärden und Bilderkarten, das allen Kindern entgegenkommt.

Christian Fischer hätte sich so etwas auch selbst gewünscht. "Doch in meinem Kindergarten wurde nur gesprochen - und ich habe nichts verstanden", gebärdet der gebürtige Deutsche, dessen Hörbehinderung mit eineinhalb Jahren festgestellt wurde. Nach dem Besuch einer Gehörlosenschule absolvierte er eine Tischlerlehre, arbeitete in einer Wäscherei und später in Österreich bei einem Textilriesen. Als er von der neuen Schule für Assistenzpädagogik hörte, beschloss er schließlich, sich umzuorientieren.

Dass das Wiener Schulungs- und Beratungsinstitut equalizent einen Vorbereitungslehrgang anbot, der durchgängig gedolmetscht und vom Sozialministeriumservice finanziert wurde, war ein zusätzliches Argument. Neben psychologischen Fächern stand hier vor allem die Allgemeinbildung im Fokus: Auf Grund von Barrieren im Bildungssystem hätten Menschen mit Hörproblemen oft gravierende Lücken, betont die Leiterin des Vorbereitungslehrgangs, Sabine Czasch (siehe Kasten).

Ein eigenes Thema war die Musik: Gehörlosigkeit galt den Behörden ja nicht nur deshalb als Hindernis für den Kindergarten, weil sie der "gesundheitlichen Eignung" zu widersprechen schien oder weil man dachte, dass gehörlose Menschen ihre Aufsichtspflicht nicht wahrnehmen könnten - sondern auch, weil man ihnen mangels Zugangsvoraussetzungen wie Singen oder Blockflötespielen die "musikalische Bildbarkeit" absprach, so Czasch. "Aber Freude an der Musik hängt nicht mit dem Hören zusammen, sie ist eine Grundfähigkeit."

Am Boden liegend Rhythmen spüren

Gemeinsam mit internationalen Expertinnen hat sie deshalb neue Formen musikalischer Sensibilisierung entwickelt. Christian Fischer und seine Kolleginnen lernten am Ende nicht nur Akkordeon, sie spielten auch in Workshops mit der Grazer Kunstuni Schlagzeug oder legten sich bei Orchesterproben auf den Boden, um Vibrationen oder Rhythmen zu erspüren. An der Schule für Assistenzpädagogik lernen sie nun statt Stimmbildung Gebärdenpoesie. "Hier geht es darum, Musik durch künstlerische Gebärden für Kinder mit Hörbeeinträchtigungen erlebbar zu machen", erklärt Schulleiterin Nicole Kalteis.

Brücken zwischen den Welten bauen: Das sollte das Ziel gebärdensprachlicher Assistenzpädagoginnen sein. Bedarf gibt es jedenfalls genug, betont die Leiterin des Kindergartens in der Gussenbauergasse, Gabriele Koppensteiner. "Manche Eltern nehmen für ihre Kinder sogar zweistündige Fahrtzeiten mit dem Fahrtendienst auf sich." Vor allem ein bilinguales Sprachangebot für Unterdreijährige sei nötig: "Wichtig wäre ein möglichst früher Einsatz muttersprachlicher Förderung", so Koppensteiner.

So gesehen ist Anton auf dem besten Weg. Während andere gehörlose Kinder von ihren hörenden Eltern oft erst nach Jahren verzweifelten Sprechtrainings an die Gebärdensprache herangeführt werden, hat er sie mit der Muttermilch aufgesogen. Gerade eben hat sich Christian Fischer mit ihm auf den Teppich gehockt und ein Wahrnehmungsspiel zum Thema Bauernhof begonnen. Ob Kuh, Schwein, Ziege oder Schaf: Der Dreijährige hat sie längst im kleinen Finger.

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