shoa mauer - © HERBERT NEUBAUER / APA

Holocaust-Überlebende: "Vergiss die Vergangenheit"

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Ihre Kindheit im Wien der 1930er Jahre hat die Jüdin Dina Zelig verdrängt. Ihre Tochter Sue sucht nun nach Spuren der Familiengeschichte. Zwei Protokolle.

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Ihre Kindheit im Wien der 1930er Jahre hat die Jüdin Dina Zelig verdrängt. Ihre Tochter Sue sucht nun nach Spuren der Familiengeschichte. Zwei Protokolle.

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Wir haben Wien 1939 verlassen. Da war ich neun Jahre alt. Ich weiß kaum noch etwas von meiner Kindheit in Wien. Die Blumauergasse im zweiten Bezirk. Dort haben wir gewohnt. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich erinnere. Bestimmte Dinge wurden vor Kindern nicht diskutiert. Hitler wurde vor Kindern nicht diskutiert. Wenn ich gefragt habe, gab es keine Antwort. Man muss verstehen, dass es sehr schwer war für meine Eltern. Sie hatten alles verloren. Brüder und Schwestern. Ich bin das einzige Kind. Sie wollten nicht, dass ich mich erinnere, also habe ich diesen Teil meines Lebens aus meinen Gedanken verdrängt. Wir hatten einen Neuanfang. Wir waren jetzt in Australien. Vergiss die Vergangenheit.

Mama hat keine traumatischen Erinnerungen an Wien. Während der Reichspogromnacht lag sie im Krankenhaus. Mandeloperation. Sie merkte zwar, dass etwas passiert war. Aber nicht was.

Wenn du einmal etwas aus deinen Gedanken verdrängt hast, willst du dich nicht mehr daran erinnern. Das Einzige, das mir geblieben ist, ist die deutsche Sprache. Mein Mutter ermahnte mich immer: „Vergiss niemals deine Muttersprache.“ Ich bin froh, dass ich Deutsch sprechen kann. Ich verstehe, worüber die Menschen hier reden. Nach Wien zu kommen ist immer eine gute Erfahrung. Wir sind bereits zum dritten oder vierten Mal hier.

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Jedes Mal, wenn wir nach Europa kommen, will Mama nach Wien. Sie kann zusammen mit ihren Töchtern eine Reise in die Vergangenheit machen. Denn Mama weiß nichts darüber. Sie ist auch nicht glücklich darüber, dass ich immer tiefer in der Vergangenheit grabe. Aber es hilft mir, ihre Persönlichkeit zu verstehen und das Geheimnis unserer Familiengeschichte langsam zu lösen. Wir haben heute die Hochzeitsurkunde meiner Großeltern gesehen. Wir wissen jetzt, wann sie geheiratet haben. Wir wissen, in welcher Synagoge sie geheiratet haben. Mama wusste nicht einmal, wie ihre Großeltern hießen. Jetzt kennen wir alle vier Namen und können nachforschen, was mit ihnen passiert ist. Mama weiß jetzt, dass sie nach einer ihrer Großmütter benannt wurde. Dynyi. Und Mama heißt Dina. Wir werden auch den Cousin in Buenos Aires suchen.

Ich habe einen Cousin in Buenos Aires?

Sie weiß es gar nicht ... Mein Großvater wollte eigentlich nach Argentinien. Dort hat er Verwandte. Wir haben den Ausreiseantrag in Wien im Archiv (der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Anm. d. Red.) gesehen. Da stand Argentinien.

Das Ausmaß der Schoa habe ich erst begriffen, als ich hier in Wien vor dem Denkmal stand. Ich hatte viel Glück.

Dina Zelig

Die Ausreisebewilligung hätte eigentlich für meinen Onkel gelten sollen, aber sie wurde auf meinen Vater ausgestellt. Mein Vater hat sich immer schuldig gefühlt. Es hätte sein Bruder sein sollen, der rauskommt. Aber es war er, der überlebt hat. Vom Holocaust habe ich erst erfahren, als ich älter wurde. Vor allem durch meine Tochter. Sie weiß mehr darüber als ich. Das Ausmaß der Schoa habe ich erst begriffen, als ich hier in Wien vor dem Denkmal stand. Ich hatte viel Glück, dass ich flüchten konnte. Das realisiere ich jetzt, wo ich hier bin.

Ich kann nicht glauben, wie glücklich wir uns schätzen können, dass Mama überlebt hat. Wie verzweifelt die Leute aus Wien flüchten wollten. Meine Großeltern waren staatenlos, da sie aus Polen nach Wien gekommen waren. Sie hatten kein Geld, und eine Ausreise kostete 2200 Reichsmark. Mein Großvater verdiente 80 Reichsmark im Monat. Der Stress, selbst rauszukommen und alle anderen zurückzulassen … Kein Wunder, dass meine Großeltern nicht darüber sprechen wollten.

Meine Eltern wären nie hierher zurückgekommen. Für viele Vertriebene bedeutet die Rückkehr nach Wien großen Schmerz. Das war es für mich nie. Wien war für mich ein Ort wie jeder andere. Ich hatte nie das Bedürfnis herzukommen. Dank meiner Tochter bin ich nun hier, und ich liebe es, in Wien zu sein. Es ist so anders, so außergewöhnlich. Jetzt habe ich eine Verbindung. Gleichzeitig fühlt es ich an wie ein Traum.

Mein Vater war Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Er kam ursprünglich aus Rumänien. Er hatte oft Albträume.

Wir haben nie darüber geredet.

Mein Vater hat zumindest mit seinen engsten Freunden gesprochen. Mama wollte das nie. Ich unterrichte Geschichte, und sie weigerte sich auch, vor meinen Schülern über ihre Vergangenheit zu sprechen.

Was geschehen ist, ist geschehen. Meine Geschichte zu erzählen macht keinen Unterschied.

Zelig - Dina Zelig überlebte den Holocaust. Mit ihrer Familie konnte die geborene Wienerin vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Australien flüchten. Ihre Tochter Sue Hampel ist dort Historikerin und Teil der International Holocaust Remembrance Alliance. Über den Jewish Welcome Service Vienna besuchen die beiden aktuell Wien. - © Foto: Margit Ehrenhöfer
© Foto: Margit Ehrenhöfer

Dina Zelig überlebte den Holocaust. Mit ihrer Familie konnte die geborene Wienerin vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Australien flüchten. Ihre Tochter Sue Hampel ist dort Historikerin und Teil der International Holocaust Remembrance Alliance. Über den Jewish Welcome Service Vienna besuchen die beiden aktuell Wien.

Dieser Artikel erschien in der FURCHE 21/22 unter dem Titel „Vergiss die Vergangenheit".

Fakt

Jewish Welcome Service Vienna

Seit 42 Jahren ermöglicht der Jewish Welcome Service vertriebenen Jüdinnen und Juden eine Rückkehr nach Wien. Schoa-Opfer und deren Nachkommen werden eingeladen, um hier auf familiäre Spurensuche zu gehen oder als Zeitzeug(inn)en Schulen zu besuchen. Gegründet wurde der Jewish Welcome Service (JWS) 1980 vom Holocaust-Überlebenden Leon Zelman und der Gemeinde Wien unter Bürgermeister Leopold Gratz und Stadtrat Heinz Nittel. „Ich wollte die Juden mit einer Stadt versöhnen, die die Schatten ihrer Vergangenheit überwunden hat“, so Zelmans Intention. Eine weitere Hauptaufgabe des JWS ist die internationale Öffentlichkeitsarbeit für jüdische Kultur in Österreich. Ziel ist es, Vorurteile abzubauen und das Verständnis zwischen Juden und Nichtjuden zu verbessern. Seit 2013 stiften der JWS und die Stadt Wien außerdem den Leon-Zelman-Preis für Dialog und Verständigung. Ausgezeichnet werden Initiativen, die sich aktiv für die Erinnerung an die Schoa einsetzen.

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