"How was your weekend?"

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Noch reagiert der britische Durchschnittsbürger cool und reserviert auf die täglichenHorrormeldungen über sein Land. Aber unter der Oberfläche gärt es gefährlich.

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Noch reagiert der britische Durchschnittsbürger cool und reserviert auf die täglichenHorrormeldungen über sein Land. Aber unter der Oberfläche gärt es gefährlich.

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Acht Uhr früh an einem Wochentag in London. Die Menschenmenge in der Eingangshalle einer Station der Piccadilly-U-Bahnlinie verheißt nichts Gutes. Wenn die Leute schon warten müssen, bevor sie die Rolltreppe hinunter zu den Bahnsteigen nehmen können! Zehn Minuten vergehen, dann kommt Bewegung in die Menge. Ein neuer Schub wird an den Fahrkartenkontrollstellen durchgelassen. Doch bei der Ankunft am Perron wird sofort klar: Hier heißt es erneut warten, denn hier stehen schon Hunderte, die des nächsten Zuges harren. Der nächste aber ist bereits gesteckt voll. Als die Türen aufgehen, scheint es wahrscheinlicher, dass einzelne Passagiere herauskippen, als dass sich noch irgendwelche neuen dazu zwängen können. Das gelingt tatsächlich nur ganz ganz wenigen. Die anderen warten weiter, auf die nächste, die übernächste oder die überübernächste U-Bahn. Die einen lesen derweil die Zeitung, die anderen ein Buch, wiederum andere dösen vor sich hin oder schauen einfach in die Luft. Einige wenige unterhalten sich leise miteinander.

Die Gesamtatmosphäre aber ist eine vollkommener Ruhe. Als dann die Durchsage kommt, dass die Schuld an diesem Morgen beim Funksystem liege, das streckenweise zusammengebrochen sei, löst das bei den Wartenden keinerlei erkennbare Reaktion aus. Keiner regt sich auf, keiner beschwert sich, keiner wendet sich an Nebenstehende, um diese in eine Debatte über die Befindlichkeit der öffentlichen Betriebe zu verwickeln. Nur einzelne verlassen nach einem Blick auf die Uhr die Station. Wollen sie den Bus nehmen? Viel Glück, kann man da nur sagen, denn was überlange Intervalle, Unverlässlichkeit respektive Verzögerungen infolge diverser Gebrechen angeht, übertreffen manche Buslinien die U-Bahn bei weitem. Bei letzterer gilt ja wenigstens noch der Einwand, dass die Stadt aufgrund des hohen Alters eines Gutteils der U-Bahn-Infrastruktur mit der Sanierung nicht mehr nach kommt. Funktionieren die Signale, bricht die Rolltreppe zusammen und deswegen muss dann eine Station zeitweise gesperrt werden. Läuft die Rolltreppe, gibt es einen Feueralarm, der die Schließung einer anderen Station erforderlich macht. Und so weiter und so fort.

Einige Wochen später: Nur wenige Monate, nachdem ein offizieller Bericht das ganze Ausmaß der BSE-Krise aufs eindringlichste dargelegt hat, ist nun die Maul- und Klauenseuche erneut ausgebrochen. Doch die Mitbewohner im Haus scheint das nicht zu berühren. Natürlich wissen sie davon, sehen einschlägige Berichte im Fernsehen, aber keiner redet darüber. Die im Kühlschrank eingelagerten Lebensmittel deuten nicht auf die allergeringste Sorge bezüglich der Herkunft und des Zustands einheimischer Fleisch- und Milchprodukte.

Wieso schimpft denn keiner? Wieso nehmen die Durchschnittsbürger und -bürgerinnen alles so gelassen hin, wo es doch in den Medien ganz anders klingt? Dort beweisen Kommentatoren Tag für Tag ihre Sprachgewalt in langen Kritiken, in Texten voller Spott und Hohn. An Anlass dafür ermangelt es ja nicht. Die verheerenden Zugunglücke der vergangenen Jahren, die zahlreiche Menschenleben gefordert haben, belegen die Folgen der misslungenen Privatisierung eines einst öffentlichen Betriebs. Aus Spitälern kommen Hiobsbotschaften über Hygiene und Kunstfehler. Das staatliche Schulwesen ist eine einzige Misere. Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange weiterführen. Aber auch der Frisör erkundigt sich nur danach, wie das Wochenende gewesen sei. Warum so zurückhaltend? Dann muss er eben mit direkten Fragen konfrontiert werden. Also: Kratzt die Londoner denn rein gar nichts mehr? Das kann doch wohl nicht sein. Ist es auch nicht, erwidert der Mann vorsichtig. Es dauert ein wenig, bis er verbal anläuft. Dann freilich ist er kaum mehr zu bremsen. "Natürlich sind wir kühl und reserviert. Aber wir lernen es schon, zu schreien. Nur, was nützt es denn...?"

Resumee eines halbstündigen Fast-Monologs: absolute Politikverdrossenheit. Seit nunmehr mehr als 20 Jahren, seit dem Amtsantritt der damaligen Thatcher-Regierung, ist alles kontinuierlich schlechter geworden, und New Labour habe es (noch?) nicht geschafft, den Trend umzukehren. Nehmen wir BSE: Was der Ende vorigen Jahres veröffentlichte Bericht und die Mediendebatten danach zeigen, ist eine einzige Kette von Un- und Halbwahrheiten, Täuschungen und Desinformationen, mit denen die Öffentlichkeit abgespeist wurde. Im Fall der Maul- und Klauenseuche gibt es täglich neue Versionen über die mögliche Ursache. "Was wirklich gelaufen ist und läuft, werden wir aber sicher nie erfahren", sagt ein Universitätslektor, der mit derselben Strategie der direkten Frage zum Reden gebracht wurde.

Die Seuche, so wird von offizieller Seite versichert, sei ohnedies nicht auf den Menschen übertragbar. Solange also das Fleisch in den Regalen der Supermärkte nicht ausgeht - in deren Umfeld ebenfalls keine Debatten erregter Kunden zu vernehmen sind -, trifft es vor allem die Bauern selbst. Da ist das Elend groß, schildern die Medien in allen Details, wie binnen eines Tages die Tiere verbrannt werden müssen, deren Aufzucht sich eine Familie ein Leben lang widmete. Da wird beschrieben, wie Familien auf ihren Farmen festsitzen, sich wie Parias von der Umwelt abschotten müssen, wie Kinder und Lehrer nicht mehr in die Schule können und das Lebensumfeld immer enger wird. Auch Bewohner der Kapitale bekommen natürlich die Seuche zu spüren. Da wird eine Golfpartie abgesagt, dort eine Wanderung, weil immer mehr Regionen zu Sperrgebieten erklärt werden. Doch das erwähnt man höchstens nebenbei in einem Gespräch und geht sogleich zu anderen Dingen über.

In Londoner Cafes und Imbissstuben finden die mit Schinken und anderen Fleischprodukten gefüllten Sandwiches ebenso reißenden Absatz wie bisher. "Wir wollen eben Konflikte meiden, und daher diskutieren wir nicht über heikle politische Themen", sagt eine Bekannte, die im Cafe eines renommierten Warenhauses arbeitet. Mit keinem einzigen Wort noch hat ihr Chef BSE oder die Maul- und Klauenseuche erwähnt. Gegenüber den Klienten ist so etwas erst recht kein Thema. Auch das Pub wollen britische Freunde keinesfalls als Arena für politische Streitgespräche verstanden wissen.

Wie äußern die Briten dann ihren Groll? Eine Studie dazu gibt es nicht. Doch Belege dafür, dass selbst die Bewohner von Cool Britannia nicht alles schlucken, gibt es zur Genüge. Und hier geht es nicht um die mit Sportveranstaltungen zusammenhängende Gewalt, für die die Briten ja bekannt sind. Erst jüngst belegte eine Untersuchung, dass bereits zwei Drittel aller praktischen Ärzte von unzufriedenen Patienten tätlich angegriffen worden sind. Gelegentliche Plakate in U-Bahnstationen zeigen Personal mit blaugeschlagenen Augen: Derartige Übergriffe, so die Botschaft des Plakats, werde man nicht einfach hinnehmen. Täter müssten mit Konsequenzen rechnen.

Doch so oft wird man nicht Zeuge eines Übergriffs. In der Praxis ist man nicht dabei, wenn andere Patienten dem Arzt ihren Unmut kundtun. Über die Aggressionen der Briten und zumal der Londoner sowie darüber, wie sie diese ausleben, muss man also lesen. Denn verbal finden sie kaum Ausdruck. Über ein so menschliches Barometer wie die Schimpfereien der Österreicher verfügt das Land nicht. Der Nebenstehende am Perron lässt sich nicht so ohne weiteres zum Partner in einem Austausch zweier U-Bahn-Leidensgenossen machen.

Irgendwann wird vielleicht auch er zuschlagen, aber hier und jetzt ist er der kühle Brite. Und zwischen ihm und dem raunzenden Alpenländler liegen Welten.

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