Humane Gesellschaften töten nicht

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Eine Gesellschaft, die irgendwo das vorsätzliche Durchschneiden des Lebensfadens zulässt, ist nicht wirklich human.

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Eine Gesellschaft, die irgendwo das vorsätzliche Durchschneiden des Lebensfadens zulässt, ist nicht wirklich human.

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Ein kranker Mensch wird von heftigen Schmerzen gepeinigt, die Mediziner haben ihn als aussichtslosen Fall aufgegeben - darf man ihm, sofern er dies selbst wünscht, weil ja "sein Leben sinnlos geworden ist", ein tödliches Mittel verabreichen, um seine Leiden abzukürzen?

Ja, sagte das Parlament in den Niederlanden, und auch in anderen Ländern sind ähnliche Bestrebungen im Gange.

Ein Embryo, aus unterschiedlichen Gründen als unerwünscht empfunden - darf man dieses ungeborene Leben innerhalb einer bestimmten Frist ungestraft beenden? Ja, sagten in den letzten Jahrzehnten die Gesetzgeber in den meisten europäischen Ländern, und nun geht - von Großbritannien aus - der Trend bereits in Richtung "therapeutisches Klonen": Embryonen sollen als reines Ersatzteillager beziehungsweise Forschungsobjekt "produziert" werden. Aldous Huxleys "Brave New World" bricht an.

Ein Mensch, dem besonders schweres Verbrechen nachgewiesen wurde - darf man ihn, weil er ja "sein Leben verwirkt hat", mit dem Tod bestrafen und hinrichten?

Ja, sagt man noch in der westlichen Führungsmacht USA, doch der Trend geht - Gott sei Dank wenigstens hier - weltweit in eine andere Richtung. Die Zahl der Staaten, in denen die Todesstrafe noch besteht und auch vollstreckt wird - etwa die Hälfte aller Staaten der Welt -, nimmt ab. Zuletzt haben sie Länder wie Polen, die Ukraine und Chile abgeschafft. Besonders verbreitet ist sie noch in China - über 500 Exekutionen im letzten Monat - und in der islamischen Welt, wo beispielsweise aus SaudiArabien heuer bereits 27 Hinrichtungen gemeldet wurden.

Euthanasie, Abtreibung, Todesstrafe - es gibt viele Menschen, die keine Probleme haben, in jeder dieser Fragen eine andere Position zum vorsätzlichen Töten einzunehmen. Erinnern wir uns an den Aufschrei, als der Weltkatechismus der römisch-katholischen Kirche Euthanasie und Abtreibung verurteilte, die Möglichkeit der Todesstrafe aber vorsah. Aber ist es nicht ähnlich inkonsequent, nur die Todesstrafe zu bekämpfen, jedoch die aktive Sterbehilfe und die Tötung im Mutterleib zuzulassen oder womöglich sogar als Errungenschaft einer liberalen Gesellschaft zu verteidigen? Liberal mag eine solche Gesellschaft sein, wirklich human ist sie nicht.

Natürlich lassen sich, meist aber nur auf extreme Einzelfälle zutreffende, Argumente finden, um das In-Kauf-Nehmen eines vorzeitigen Todes nach sorgfältiger Güterabwägung zu entschuldigen, beispielsweise bei einer schwierigen Geburt, wenn es darum geht, die Mutter oder das Kind zu retten, oder beim Verabreichen schmerzstillender Mittel, die den Nebeneffekt haben, das Leben zu verkürzen. Aber es macht einen Unterschied aus, ob man nur die Reparaturversuche am brüchigen Lebensfaden einstellt, was sehr human sein kann, oder ob man diesen Lebensfaden einfach durchschneidet, weil es allen Beteiligten als die einfachste Lösung erscheint und ein Gesetz, das natürlich auch missbraucht werden kann und missbraucht werden wird, das ermöglicht.

Dabei geht es keineswegs um rigorose Strafgesetze, aber um die eindeutige Klarstellung, dass Töten Unrecht ist. Dass drakonische Strafen eher wenig bewirken, zeigen gerade die USA sehr anschaulich. Die "New York Times" meldete im September 2000, die Mordquote in den US-Bundesstaaten mit Todesstrafe liege zwischen 48 und 101 Prozent höher als in Staaten ohne Hinrichtungen. Das Argument "Abschreckung" ist schwach.

Im Grunde sind auch gängige Argumente für Euthanasie ("Gnadentod") und Abtreibung ("Mein Bauch gehört mir") dürftig. Sollte in Österreich wirklich eine Mehrheit aktive Sterbehilfe befürworten, was eine zweifelhafte Umfrage ergeben hat (auch für die Todesstrafe ließe sich vermutlich zum richtigen Termin eine Mehrheit "erfragen"), so ist das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Denn ein solches Ergebnis spiegelt nur wider, welch großes Misstrauen die Menschen jenen Institutionen, die Alte und Kranke betreuen sollen, zum Teil entgegenbringen, wenn man die schnelle Spritze ins Jenseits einem Ausgeliefertsein an diesen Apparat bereits vorzieht.

Die bevorstehende Hinrichtung von Timothy McVeigh (siehe Seite 5) hat der Diskussion über die Todesstrafe eine neue Facette verliehen: Wie weit dürfen Medien, etwa das Internet, Hinrichtungen (bekanntlich in früheren Zeiten ein Volksschauspiel) live verbreiten? Mit der Tonbandaufzeichnung einer Exekution aus dem Jahr 1984 ließ eine New Yorker Radiostation bereits dieser Tage "aufhorchen".

Dass die USA, wie ein Kongress in Paris im April feststellte, zu jenen fünf Staaten gehören, in denen Minderjährige hingerichtet werden, dass dort auf etwa 700 Hinrichtungen in den letzten 25 Jahren nachweislich 95 schuldlos in der Todeszelle sitzende Häftlinge kamen, gibt zu denken. Wo ist die Wertegemeinschaft, die daran Anstoß nimmt? Wo ist die Wertegemeinschaft, die in keinem menschlichen Leben, sei es ungeboren, alt, krank, geistig oder körperlich behindert, zur Tötung freigegebenes - also "unwertes" - Leben sieht?

Am deutlichsten beziehen die Vertreter der christlichen Kirchen in diesen Fragen Stellung. Die Ächtung des vorsätzlichen Tötens und das Eintreten für einen umfassenden Schutz des menschlichen Lebens beruhen natürlich vielfach auf religiösen Überzeugungen. Doch eine wahrhaft humane Gesellschaft dürfte nach gründlicher Auseinandersetzung mit der Thematik zu keiner anderen Einstellung kommen.

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