"Ich bin unendlich dankbar"

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In Österreich leben über 300 Menschen, die bereits 100 oder mehr Jahre alt sind. Einige dieser Lebensgeschichten und Schicksale wurden in einem interessanten Buch dokumentiert.

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In Österreich leben über 300 Menschen, die bereits 100 oder mehr Jahre alt sind. Einige dieser Lebensgeschichten und Schicksale wurden in einem interessanten Buch dokumentiert.

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Das Buch von Ingrid Pachmann ist ein Beitrag zu dem von den Vereinten Nationen ausgerufenen "lnternationalen Jahr der älteren Menschen" 1999. Die Autorin hat darin dreizehn Hundertjährige darüber befragt, wie sie ihr langes Leben gemeistert haben und wie es ihnen heute geht. Die "jüngste" Interviewpartnerin stand sechs Monate vor ihrem 100sten Geburtstag, die älteste hatte den 102. Geburtstag bereits hinter sich.

Die einzelnen Schicksale sind so unterschiedlich wie der soziale Hintergrund und die Art der Lebensführung jedes einzelnen. Ein allgemeines "Rezept" für das Phänomen "100 Jahre leben" findet man nicht, sehr wohl aber Beispiele für ein sinnvoll gelebtes Leben.

So erzählt beispielsweise Maria D. aus Mönichkirchen, daß sie sich nur in ihrem Geburtsort wirklich daheim gefühlt habe. Mit sechs Jahren bekommt Maria eine Stiefmutter, "weil der Vater eine Frau gebraucht hat". Mit 14 geht sie "in den Dienst" nach Wien. In der kargen Freizeit bleibt Maria in der Wohnung der Herrschaft, macht einfache Handarbeiten, hie und da geht sie ein bißchen spazieren. Das Heimweh nach Mönichkirchen ist immer präsent. Bei den Besuchen daheim wird auch fleißig mitgearbeitet. Sparsam hat man sein müssen, sagt sie, denn der Vater, den Maria noch mit "Sie" angesprochen hat, verdient als Schuhmacher außerhalb des Ortes wenig. "Zirka mit 29 hab ich dann den Leopold geheiratet."

Die Weltkriege verschonen die Menschen auf der Alm in Mönichkirchen. Kinder bekommt sie keine. "Alles ist vorbeigangen. Vorbei ist vorbei. Man denkt hie und da zurück und ist froh, daß alles vorüber ist. Ich möcht', um Himmels willen, nicht mehr jung sein. Zu was, wenn man' schon einmal durchgemacht hat, soll man's dann noch einmal durchmachen?"

"Gehorsames Kind" Cäcilie B., die von sich sagt: "Ich war immer ein gehorsames Kind", lebt seit zehn Jahren in einem Pensionistenheim. Träume von einem Sprachstudium in der Schweiz, die die Mutter für sie als Kind hatte, konnten nicht realisiert werden. Cäcilie hat sich gefügt. Sie heiratet und bekommt zwei Söhne. Ihren Mann und einen Sohn verliert sie durch Krankheit sehr früh. Abends im Bett holt sie sich Zeiträume aus der Vergangenheit und "verarbeitet" sie, denn Cäcilie hat schöne Zeiten in ihrer Erinnerungs-Schatztruhe aufgehoben, an die sie geme zurückdenkt. Es war schließlich eine lange Zeit.

Schätzungsweise 300 Menschen gibt es in Österreich, die über 100 Jahre alt sind. (Zum Vergleich: In Deutschland gibt es heute rund 5.000 Hundertjährige.) Die meisten Hundertjährigen leben laut Guinness-Buch der Rekorde 1998 in Japan, wobei Japaner überhaupt die höchste Lebenserwartung der Welt haben. Frauen werden dort im Durchschnitt 83 Jahre alt, Männer 77. 80 Prozent der 7.373 Japaner jenseits der 100 sind Frauen.

In Österreich liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei Frauen bei 80 Jahren, bei Männern bei 73. Eine halbe Million Menschen in Österreich sind heute über 75 Jahre alt. Im Jahr 2050 sollen es über 1,3 Millionen sein.

Die Gespräche, die Ingrid Pachmann mit den alten Menschen führte, zeigen, daß ein so langer Lebenszeitraum nicht nur ein großes Maß an Flexibilität erfordert, sondern auch viel Kraft kostet. Haben diese Menschen doch eine sehr lange, von großen gesellschaftlichen und historischen Umbrüchen erfüllte Zeit durchlebt.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert geboren zu sein, und die Wende zum 21. Jahrhundert noch zu erleben, heißt auch zwei Weltkriege mit Wirtschaftskrisen, Hungersnöten und den Verlust vieler Angehörige erlebt zu haben. Persönlich erlittene Erfahrungen wie Emigration, Vertreibung, Verfolgung, Gefangenschaft, materielle und seelische Not erklären vielleicht auch die teilweise recht kritische Einstellung vieler alter Menschen gegenüber der Überflußgesellschaft unserer Tage in manchen Erzählungen des Buches.

Tiefe Gläubigkeit Eine der Interviewpartnerinnen, Schwester Norberta, CS, erinnert sich in ihrem Gespräch auch daran, daß es in schwierigen Tagen zu ihrer Zeit fast überall noch eine tiefe Gläubigkeit gegeben hat. Daß mehr gebetet wurde als heute. Auch Klara Z., unverheiratet, das jüngste von acht Geschwistern, ist überzeugt: "Hinter uns allen steht Gott. Wenn der nicht will, nützt unsere ganze Weisheit nichts." Friederike F., deren Mann bei einem Polizeieinsatz von einer Kugel getroffen wurde, und deren einziger Sohn im Zweiten Weltkrieg mit 22 Jahren gefallen ist, wundert sich selbst darüber, "so alt" geworden zu sein. Friederike meint rückblickend, daß sie nur mit Gottes Hilfe den Verlust der geliebten Menschen verkraften konnte. Gottvertrauen, aber auch ein hohes Maß an Bescheidenheit dem Leben gegenüber, haben keinen und keine der Befragten bitter werden lassen. Im Gegenteil: Der im November 1898 geborene Johann Toth, der noch seine Goldene Hochzeit gefeiert hat und heute von seinen Enkeln und Urenkeln betreut wird, will auch noch das dritte Jahrtausend erleben. Wie er das schaffen will? "Nicht rauchen, nicht trinken, und nicht vor 100 sterben"...

Die Autorin hat mit großem Einfühlungsvermögen zugehört. Sie hat die Menschen in ihrer "Alltagssprache" reden lassen, was die Authentizität der Schilderungen und Personen unterstreicht.

Franz S., von Beruf "Zauberkünstler", der viel in der Welt herumgekommen ist, meint: "Wenn man befragt wird und sprechen kann, dann erinnert man sich an manches und kann mehr oder weniger Auskunft geben." Das sollte eine Ermunterung und Aufforderung für uns "Junge" sein, sich interessiert einer Zeitgeschichte zuzuwenden, deren Kenntnis uns dabei hilft, ältere Menschen besser zu verstehen und aus ihrer Lebenserfahrung zu lernen.

"Ich bin unendlich dankbar".

Hundertjährige erzählen. Von Ingrid Pachmann. Verlag St. Gabriel, 151 Seiten, öS 191,-. ISBN 3-85264-569-7

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