"Ich glaube an den freien Willen“

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Der Kinder- und Jugendpsychiater Werner Leixnering über die Grenze zwischen Geisteskrankheit und Verhaltensstörungen, krankmachende Kindheitserfahrungen, die pure Lust an der Gewalt und den Umgang der Therapeuten mit dem Bösen. Das Gespräch führte Doris Helmberger

Machen traumatische Kindheitserfahrungen Menschen zu Gewalttätern? Diese und andere Fragen beantwortet Jugendpsychiater Werner Leixnering im FURCHE-Interview.

Die Furche: Ein norwegischer Gutachter behauptet, Breivik habe vermutlich "keine Psychose“, sei nach norwegischem Recht nicht geisteskrank und deshalb voll schuldfähig. Wo liegt die Grenze zwischen Geisteskrankheit und - umgangssprachlich formuliert - ganz normalem Wahnsinn?

Werner Leixnering: Ein Mensch ist nicht nur dann psychisch krank, wenn eine Psychose oder Schizophrenie oder Wahnkrankheit diagnostiziert wird. Auch eine schwere Persönlichkeitsstörung hat psychiatrischen Krankheitswert. Und die könnte hier vorliegen, bei aller Vorsicht gegenüber Ferndiagnosen. Zugleich wird aber nicht jeder Mensch mit Persönlichkeitsstörung zu einem Attentäter. Die Wissenschaft hat auf das "Warum“ noch überhaupt keine Antworten.

Die Furche: Viele suchen diese Antworten in Breiviks Biografie. Seine Eltern haben sich kurz nach seiner Geburt scheiden lassen, er hat sich für Gewalt-Videospiele interessiert, war beziehungs- und beruflich erfolglos. Kann man diese Vita als "typisch psychopathologisch“ bezeichnen?

Leixnering: Wir wissen zumindest, dass es biografische Faktoren gibt, welche die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit beeinträchtigen können. Hier in Linz haben wir viele jugendliche Patienten, die selbst- und fremdgefährdende Handlungen setzen - und die oft wiederholter körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Auch sichere Bezugspersonen sind äußerst wichtig. Doch damit jemand zu einem Täter wird, braucht es noch andere Faktoren, die medizinisch schwer zu fassen sind.

Die Furche: Oft ist davon die Rede, dass die Hemmschwelle bei aggressiven Jugendlichen stetig sinkt. Haben Sie eine Erklärung für dieses Phänomen?

Leixnering: Wir sind davon überzeug, dass das Erleben virtueller Gewalt durch Computer- und Internet-Spiele diese Schwelle senkt - zumindest bei jenen, die durch eine problematische Sozialisation an sich schon gefährdeter sind. Deshalb wäre es auch wichtig, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, was Jugendliche medial konsumieren.

Die Furche: Gibt es aus Ihrer Sicht eine "pure Lust an der Gewalt“, die nicht auf persönliche Kränkungen zurückzuführen ist?

Leixnering: Man könnte das als Weiterentwicklung einer "Lust am Risiko“ sehen, die sich in einem gewissen Gewaltpotenzial durch Grenzüberschreitungen ausdrückt. Was geht noch? Auch wenn es an Lebenssinn fehlt, kann ein Sich-Hinausbewegen in ein zielloses Risiko größer werden.

Die Furche: Der Schweizer Autor Eugen Sorg hat in einem "Standard“-Kommentar das "utopische Menschenbild des Therapeutismus“ kritisiert, bei dem das Böse nur mehr als Reaktion auf erlittenes Unrecht, aber nicht mehr als eigenständige Macht verstanden werde. Was sagen Sie zu dieser Kritik?

Leixnering: Das ist eine Diskussion, die auf die theologische Grundsatzfrage hinausläuft, was das Böse ist. In der Praxis als therapeutisch Helfender fange ich damit nichts an. Aber natürlich muss ich auch zur Kenntnis nehmen, dass ich mit meinen Hilfeversuchen manchmal erfolglos bin. Ich gehöre auch nicht zu jenen, die sagen: Jedes Unrechtshandeln ist ein Fall für die Psychiatrie. Wir haben eine ganze Reihe von Jugendlichen, wo wir sagen: Da stehen wir an, da brauchen wir jetzt die Justiz. Ich glaube insgesamt an den freien Willen des Menschen und seine Verantwortung. Dann muss ich aber damit rechnen, dass er diesen freien Willen auch antisozial einsetzt. Wenn man das dann "das Böse“ nennen will, kann man das gerne tun.

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