"Ich meine, wir müssen nicht alles wissen"

Werbung
Werbung
Werbung

Die Debatten rund um Gentechnik und Biotechnologie nehmen mit deren rasantem Fortschritt an Intensität zu. Gibt es Grenzen für sinnvolles Forschen? Scharfzüngig kritisiert Erwin Chargaff, einer der Väter der Genforschung, den heutigen Wissenschaftsbetrieb.

Die Furche: Sie sind in Czernowitz geboren, Ihre Jugendjahre haben Sie dann in Wien verbracht, seit über 40 Jahren leben Sie in New York: Gibt es einen Ort, den Sie als Ihre Heimat bezeichnen würden?

Erwin Chargaff: Nein, ich habe so viele Heimaten, dass ich keine habe; wenn ich eine Heimat nennen würde, wäre es die Sprache, die Muttersprache, und das ist Deutsch.

Die Furche: Ein Leben im Exil?

Chargaff: Sehen Sie, der Mensch ist im Exil geboren, und daher unterscheidet sich mein Leben nicht von allen andern.

Die Furche: Wie sehen Sie, als Einer, der an den Anfängen der Genforschung beteiligt war, die Entwicklung der letzten Jahre?

Chargaff: Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir nicht alles wissen müssen. Die Menge des möglichen Wissens ist unbegrenzt, denn das Wissen fragt sich selbst, und je mehr wir wissen, desto mehr werden wir befragt. Das ist ein endloser Weg, der immer langweiliger wird. Ich sehe eine Grenze, die ich oft als eine Kante zwischen dem Wissbaren und dem Unwissbaren bezeichne. Bei Arbeiten über Embryonen oder beim Klonen dringen wir in Gebiete ein, die ich als unwissbar definieren würde. Ich glaube nicht, dass das Geheimnis des Lebens je in zufriedenstellender Weise aufgeklärt werden kann. Die mechanistischen, positivistischen Maschinen, mit denen wir heute operieren, vermögen diese Grenze nicht zu berühren und da einzudringen. Anders gesagt, im Vorgang der Empfängnis, also wenn eine Spermazelle auf ein Ei wirkt, ist in dem Moment, wo diese zusammenstoßen, diese Kante, diese Grenze gegeben. Was danach vorgeht, können wir mit unseren Methoden nicht wirklich erforschen. Erst das Endprodukt, den Embryo, sieht man langsam aufwachsen. Aber was da geschieht, das heißt, was das Leben ist, ist, glaube ich, nicht in Worten ausdrückbar.

Die Furche: Sie verwenden einmal das Bild von Adam und Gottvater aus der sixtinischen Kapelle. Der Abstand zwischen dem Finger des Adam und dem Finger Gottes, das ist die Ewigkeit und aus dieser Ewigkeit, schreiben Sie, ist der Mensch geboren.

Chargaff: Diese freie Stelle bezeichnet die Grenze, die ich genannt habe, die Grenze zwischen dem Berührbaren und dem Nicht-Berührbaren. Ich glaube, Michelangelo drückt damit auch aus, dass man nicht versuchen darf, Gott zu berühren.

Die Furche: Gab es in den Naturwissenschaften früher mehr Ehrfurcht, vor allem mehr Ehrfurcht vor dem Menschen als Geschöpf?

Chargaff: Das ist schwer zu sagen. Es hat in den Tätigkeiten des Menschen ein gewisses Schamgefühl geherrscht, das plötzlich verschwunden ist; abgelöst durch die Schamlosigkeit der auf Gewinn bedachten Kapitalisten. Sie versuchen sozusagen ihre Entdeckungen an den Höchstbietenden zu verkaufen. Alle wollen einen Nobelpreis kriegen, wenn sie können. Da das aber nur wenige können, machen sie soviel Lärm als möglich, sie wollen geehrt werden in verschiedener Form. In Amerika sind Mitgliedschaften in der National Academy of Sciences etwas sehr Begehrtes - ich habe nie dazugehört.

Die Furche: Verbindet sich mit der heutigen Genforschung nicht auch so etwas wie ein Perfektionierungswahn: dass man die Natur besser machen will, als sie ist, und Leid immer schwerer akzeptiert wird?

Chargaff: Ja selbstverständlich. Der Mensch kann nicht erwarten und fordern, dass er gesund geboren ist, denn dann kann er ja auch fordern, dass er ewig lebt. Hinter vielen dieser Versuche steckt ja tatsächlich ein nicht ganz ausgesprochener Wunsch, den Tod abzuschaffen oder zumindest die Langlebigkeit so weit hinauszutreiben, dass die Menschen nach dem Tod schreien werden.

Die Furche: Wie schätzen Sie die heutige Rolle Amerikas ein? Als Sie damals nach Amerika kamen, waren Sie es, die kow how' mitbrachten. Heute ist es umgekehrt. Wer was auf sich hält, wer up to date' ist, war in Amerika.

Chargaff: Ja ich weiß. Amerika ist, was es ist, es hat große Vorzüge und große Nachteile. Was ich vor allem beklage ist die Amerikanisierung, die Globalisierung, denn dadurch verschwindet vieles, was für mich den Menschen ausgemacht hat; eine gewisse Art von Individualität, von Verschiedenheit, von Nicht-Voraussagbarkeit seines Schicksals. Bald werden die Leute beim Abitur einen Zettel bekommen, wo ihnen gesagt wird, wie's ausgehen wird. Jetzt will man ja schon von jedem Embryo wissen, wer er ist, bevor er überhaupt ein Embryo ist. Wir haben eine Art Radiergummi erzeugt, der viele höhere Interessen der Menschheit ausgelöscht hat. Die Intensität, die früher vielleicht in einem schönen Aphorismus aufgegangen ist, wird heute verwendet, um den Wagen in Stand zu halten. Wir werden derartig abgelenkt von allem, was früher den Menschen ausgemacht hat, und der Mensch geniert sich, einzugestehen, dass er noch ein gewisses Heimweh nach diesen Zeiten hat.

Die Furche: Glauben Sie, dass man dieses Heimweh dem Menschen endgültig austreiben kann, oder dass es zwar verschüttet und verdeckt ist, aber dem Menschen bleibt?

Chargaff: Es ist durchaus anzunehmen, wenn wir davon ausgehen, dass der Mensch eine Schöpfung Gottes ist, dass er gerettet werden kann - genauso wie der Tod nicht abgeschafft werden wird, trotz aller Versuche - und dass man zum Leben zurückkehrt. Aber ich bin kein Prophet, ich bin nur ein stiller Beobachter. Was mir fehlt, ist ein Messias. Wenn ich einen Glauben hätte, würde ich an den Messias glauben. Vielleicht kommt er besser nicht - denn es wird nicht angenehm sein, wenn er kommt. Man kann nicht einmal die Form beschreiben, in der so was kommen könnte. Es ist irgendetwas, das in den Menschen, in der Mehrzahl der Menschen plötzlich vorgehen muss, eine Art Krampf oder Erbrechen oder so etwas, das etwas Neues bringt. Aber ich glaube selbst nicht daran, ich wünsche es mir nur.

Die Furche: In Ihren Texten wird immer wieder eine Art tragisches Lebensgefühl, ein Hauch von Traurigkeit spürbar, der sich aber markant von jeder Art von Sentimentalität unterscheidet. Woher kommt Ihr Mut zur Realität?

Chargaff: Wenn man angeben sollte, was als allgemeines, erstes Gefühl im Herzen der Menschen ist, würde ich sagen, es ist die Trauer. Es ist nicht so sehr die Sehnsucht, sondern es ist eine nicht definierbare, nicht erfüllbare Trauer, und ich glaube, ohne das könnten wir gar nicht leben.

Die Furche: Hängt das zusammen mit dem, was Sie sagten, dass der Mensch im Exil geboren ist?

Chargaff: Ja, wenn Sie wollen - ich will keine neuen Aphorismen erzeugen - ja.

Die Furche: Trauer - worüber eigentlich?

Chargaff: Ein Gefühl der Trauer, auch eine gewisse Erfahrung von Schmerz, ist ja nicht definierbar - aber ich will nicht psychologisieren. Ich glaube, dass Lyrik zum Beispiel ohne Trauer gar nicht denkbar ist. Die heitere Lyrik kommt dann später - man wacht auf und denkt sich, es ist ja doch nicht so schlecht. Es gibt Beides: heitere und traurige Lyrik. Jemand hat mir geschrieben - er sei berührt von der Trauer, die aus allen meinen Sachen spricht.

Die Furche: Würden Sie vermuten, dass ein gläubiger Mensch dieses Gefühl der Trauer nicht hat?

Chargaff: Nein, das glaube ich nicht, nein.

Die Furche: An dieser Grundbefindlichkeit ändert sich also auch für einen Glaubenden nichts?

Chargaff: Nein, vielleicht sogar im Gegenteil - aber das deshalb, weil ich nicht glaube, dass die Religionen ein Versprechen ausdrücken, ihre Gläubigen glücklich zu machen. Religion ist eigentlich mehr die Lehre von dem, was man nicht wissen kann, und sollte eigentlich nur aus Umschreibungen, aus vorsichtigen Andeutungen bestehen. Ich habe in diesem Zusammenhang nicht gerne die ausführlichen, detaillierten Besprechungen. Es geht hier nicht um Golgota - ich kritisiere nicht die Evangelien.

Die Furche: Halten Sie sich für einen religiösen Menschen?

Chargaff: Da kann ich gleich mit meinem alten Aphorismus kommen: Wer von seinem Glauben reden kann, hat keinen.

Das Gespräch führten Christiane Koch und Michael Hofer

Zur Person

Ein Kenner der Grenzen der Wissenschaft

Erwin Chargaff ist 1905 in Czernowitz geboren und hat ab 1914 in Wien gelebt. 1928 schließt er sein Chemie-Studium ab. Von 1928 bis 1930 wirkt er an der Yale-University, von 1930 bis 1933 am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin und anschließend am Pasteur-Institut in Paris. Ab 1935 ist er als Professor an der Columbia-University New York tätig. Ende der vierziger Jahre entdeckte er wesentliche Strukturmerkmale der DNS (Chargaff Regeln). Er schuf damit die Grundlagen der Gentechnologie.

Nach seiner Emeritierung 1975 begann er ein "zweites Leben" als erfolgreicher Essayist. Von seinen 14 Büchern seien erwähnt: "Das Feuer des Heraklit" (1979), "Ein zweites Leben" (1995), "Ernste Fragen" (2000). Glaubt man dem Philosophen Odo Marquard, dann ist das Alter in besonderer Weise fähig zur Theorie, das heißt: "Sehen und sagen, wie es ist." Chargaffs Essays bestätigen diese Behauptung: Sie zeichnen sich aus durch einen eindrucksvoll klaren Blick auf unsere Wirklichkeit und durch ein an Karl Kraus geschultes Sprachgefühl.

Am 11.8.2001 feiert er Geburtstag.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung