Im Anfang war der Krimi

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Was macht Kriminalromane so faszinierend?

"Ihren Glauben", schrie der Arzt, "zeigen sie mir Ihren Glauben!"

Der Alte lag da, die Hände in die Decke verkrallt.

"Ihren Glauben! Ihren Glauben!"

Nach langem Warten fuhr Emmenberger fort: "Dann sagen Sie es der Sache zuliebe, dem Glauben an Gottes Sohn zuliebe, dem Glauben an die Gerechtigkeit zuliebe." Der Alte schwieg.

In einem furiosen Streitgespräch erreicht eine Geschichte im vorletzten Kapitel ihren Höhepunkt, unter grotesken Umständen: krank und müdegeworden liegt Kommissär Bärlach in der Privatklinik Sonnenstein, festgegurtet am Operationstisch. Über ihn gebeugt der Leiter der Klinik, Dr. Emmenberger. Ein winziges Indiz - eine unscharfe Fotografie in der Zeitschrift Life - hat den alten Kommissär auf die Spur des angesehenen Arztes gebracht, einem vagen Verdacht folgend: dass nämlich Emmenberger einst im Konzentrationslager Stutthof der seiner Grausamkeit wegen berüchtigte NS-Arzt Nehle gewesen ist. Ein Arzt, der seine Opfer ohne Narkose operiert hat! Der Verdacht bestätigt sich. Bärlach jedoch sitzt in der Falle. Die Seziermesser liegen bereit. Zuletzt, ehe Emmenberger den Todgeweihten aufschlitzen will, schmettert dieser ihm sein finsteres Credo entgegen:

Finsteres Credo

"Ich glaube an die Materie, die keinen Gott braucht. Und ich bin als Teil dieser Materie nur Zufall, wie das Leben in dieser ungeheuren Welt nur eine ihrer unermesslichen Möglichkeiten ist, ebenso Zufall wie ich - die Erde etwas näher der Sonne, und es wäre kein Leben. Nichts ist heilig, nur die Materie. Es ist lächerlich, dem Menschen Dauer zu geben, denn es wird immer nur die Illusion einer Dauer sein. Es ist unsinnig in einer Welt, die ihrer Struktur nach eine Lotterie ist, nach dem Wohl des Menschen zu trachten. Es gibt keine Gerechtigkeit. Wie könnte die Materie gerecht sein?" "Ich verstehe", rief der Kommissär, "Sie glauben an nichts als an das Recht, den Menschen zu foltern!" Der Arzt klatschte in die Hände. "Ja, ich gab mich dem hin, was mich frei machte. Denn wenn ich einen anderen Menschen töte, wenn ich mich außerhalb jeder Menschenordnung stelle, die unsere Schwäche errichtet, werde ich frei! Was für ein Augenblick! An Intensität gleich ungeheuer wie die Materie, gleich mächtig wie sie, und in den Schreien und in der Qual, die mir aus den geöffneten Mündern und aus den gläsernen Augen entgegenschlägt, über die ich mich bücke, in diesem zitternden, ohnmächtigen, weißen Fleisch unter meinem Messer spiegeln sich mein Triumph und meine Freiheit!" Der Arzt schwieg. Langsam erhob er sich und setzte sich auf den Operationstisch. "Zeigen Sie mir nun Ihren Glauben", sagte Emmenberger, wieder ruhig und sachlich und nicht mehr leidenschaftlich und hart wie zuletzt. Bärlach antwortete nichts. "Ich werde mich geschlagen geben, wenn Sie, Kommissär, mir beweisen, dass Sie einen gleich großen, gleich bedingungslosen Glauben besitzen wie ich." Der Alte schwieg. (gekürzt)

Sein oder Nichtsein

Selten werden in Krimis theologische Fragestellungen so unverblümt, so packend - und, zugegeben: auch platt - behandelt wie in Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman "Der Verdacht". Krimi ist U-Literatur. Knalleffekt. Nervenkitzel. Zwielicht. Action! Es wird ermordet, es wird ermittelt, es wird vertuscht und verdächtigt, falsche Fährten: Wer ist der Mörder? Dennoch, es bleibt die Frage: Woher das fortwährende Faszinosum dieses immer und immer wieder von neuem gespielten Räuber-und-Gendarm-Spiels namens Krimi?

Ein Blick auf die aktuellen Bestsellerlisten hierzulande: Donna Leon, Die dunkle Stunde der Serenissima; Wolf Haas, Das ewige Leben; Alfred Komarek, Polterabend. Brunetti, Brenner, Polt: Die Namen der Nachfahren von Sherlock Holmes, Miss Marple, Maigret und Co sind Legion. Bloß die perfekte Befriedigung des unersättlichen Bedürfnisses nach Zeitvertreib und Unterhaltung? Oder ist Krimi Existenzialismus pur: Sein oder Nichtsein? Immer geht es ums Ganze, um Leben und Tod. Mord als verheerendster Ausdruck des Nichteinverstandenseins mit dem Dasein, so alt wie Kain und Abel? Urdrama. Im Anfang war der Mord.

Wäre es vermessen zu fragen, ob Kains Untat im Wesentlichen den Urstoff aller Krimis bildet? Draußen das Feld: der erste Tatort? Im Ackerboden das Blut des Bruders, das zum Himmel schreit: eine erste heiße Spur? Die Frage des Herrn "Wo ist dein Bruder Abel?" das erste Verhör? Kains Antwort "Ich weiß nicht, wo mein Bruder Abel ist" die erste Lüge? Kains "Bin ich der Hüter meines Bruders?" die erste Finte?

Verlockung ins Gesetzlose

Oder: Krimi als narratives Kreuzworträtsel? Die lebenslange Suche nach dem Losungswort. Krimi als literarisches Puzzlespiel? Alle Fährten, Fingerzeige, Indizien etc. fügen sich, Kapitel für Kapitel, allen Lügen und Finten zum Trotz, letzten Endes zum Ganzen. Der Detektiv als unbestechlicher Wunderwuzzi? Ist Krimi der heimliche Blick durchs Schlüsselloch in die verbotene, verlockende Welt des Gesetzlosen? Wo ein jeder gefahrlos - in sublimierter Weise - seine/ihre eigene kleine Mordlust befriedigen kann? Oder ist Krimi letztlich nichts anderes als ein massenwirksames Beruhigungsmittel für klammheimliche Angstlust: nichts als (reaktionäre) law-and-order-Geschichten?

Schwarz-Weiß-Malerei. Wo das Böse unerbittlich bekämpft wird. Das Gute garantiert siegt. Hollywood. Happy end. Der literarische Gattung gewordene Glaube an eine alles ausgleichende (höhere) Gerechtigkeit? Der immergleiche plot vom großen Saubermachen in einer vom Schmutz des Verbrechens missratenen Welt? Der Kommissar als neuzeitlicher Drachentöter?

Ist Krimilesen wie Müllausleeren? Also doch: Trivialliteratur? Schund? Fernsehserie. Derrick. Tatort. Colombo. Usw. Der Alte. Die Neue. Der Bulle von Tölz. Kommissar Rex. Ein Fall für zwei. Usw. Usf. Nichts als stereotype Drehbuchschablonen, x-beliebig austauschbar? Fertigteilgeschichten, routinemäßig zusammengekleistert aus einem Bündel Klischees?

Gottesgabe Angst

Wie auch immer: Ich bin ein begeisterter Krimileser. Zuletzt: Harry Kemelmans "Als der Rabbi die Stadt verließ". (Kemelmans Rabbi David Small als jüdisches Pendant von Chestertons Pater Brown?)

Mein großer Favorit: Umberto Ecos "Der Name der Rose". Die unvergessliche Geschichte des William von Baskerville, der mehrere rätselhafte Morde aufklärt in einer Benediktinerabtei an den Hängen des Apennin. Ein Krimi im Schatten der Inquisition: voll schwarzer Magie und philosophischem Scharfsinn. Morde, die allein um eines Buches willen begangen werden vom blinden Jorge von Burgos, dem Wächter einer geheimen Bibliothek. Der das zweite Buch der Poetik des Aristoteles vergiftet mit Arsen, auf dass jeder, der darin blättert, stirbt. Das Buch des PHILOSOPHEN, welches handelt vom Wesen der Komödie und vom Lachen.

"Das Lachen", so Jorge, "vertreibt dem Bauern für ein paar Momente die Angst. Doch die Gottesfurcht verschafft sich Geltung mit Hilfe der Angst. Der lachende Bauer fürchtet sich nicht, solange er lacht. Und aus diesem Buch könnte der Funke aufspringen, der die ganze Welt in einen neuen Brand stecken würde, dann würde das Lachen zu einer neuen Kunst. Aber was wären wir sündige Kreaturen dann ohne die Angst, diese vielleicht gnädigste aller Gaben Gottes?"

Zu welcher Trivialität manche Krimis vielleicht auch verkommen mögen, wie auch immer - allein um solcher Sätze willen muss man Krimis lieben.

Der Autor ist Sozialarbeiter und Schriftsteller.

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