Screening

Im Schatten des Baobabs

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In Burkina Faso setzt sich die Organisation „Licht für die Welt“ für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein. Die FURCHE begleitete die Helfer zu einigen Projekten. Begegnungen und Eindrücke aus einem der ärmsten Länder der Welt.

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In Burkina Faso setzt sich die Organisation „Licht für die Welt“ für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein. Die FURCHE begleitete die Helfer zu einigen Projekten. Begegnungen und Eindrücke aus einem der ärmsten Länder der Welt.

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Zunächst ist es eine Decke, die Catherine am Straßenrand von Sanga ausbreitet. Darauf legt sie Mangos, Cashewnüsse, Okraschoten, verkauft die Lebensmittel an Durchreisende, Dorfbewohner oder an einen der Händler, die mit einem Dutzend Hühnern auf ihrem Moped zum Markt unterwegs sind. Jeden Franc (Franc de la Communauté Financière d’Afrique, westafrikanische Währung), den sie nicht unmittelbar zum Leben benötigt, legt sie zurück.

Von ihren Ersparnissen kauft sie schließlich einen schlichten Holztisch, bietet von nun an auf diesem ihre Waren feil. Auch das ist nur eine Zwischenstation. Catherine beginnt in Lehmsteine zu investieren. Peu à peu errichtet sie ein rund drei mal vier Meter großes Ladenlokal. Manchmal packt beim Heben und Tragen einer der Verwandten mit an, einen Großteil der Arbeit erledigt die gehbehinderte Catherine, heute 46 Jahre alt, aber allein.

Dass in Burkina Faso eine Frau eigenständig ein Geschäft betreibt und ihren Lebensunterhalt unabhängig bestreitet – bereits dieser Umstand wäre an sich bemerkenswert. Doch Catherines Geschichte ist mehr als der Zugewinn von Unabhängigkeit in einer traditionellen westafrikanischen Gesellschaft. Sie handelt von einem Mädchen, das als Achtjährige mit einer plötzlichen Lähmung zu kämpfen hat, von einem Tag auf den anderen nicht mehr aufstehen kann. Nachdem auch die Ärzte ob der Ursache bzw. Heilung der Bewegungsunfähigkeit im Dunkeln tappen, packt die Mutter des Mädchens ihre Koffer und verlässt ihr Kind. Die Frau hängt dem noch heute weit verbreiteten Glauben an, böse Geister hätten ihre Tochter heimgesucht. Sie fürchtet, der Fluch könnte auch ihre anderen drei Kinder oder sie selbst heimsuchen.

So macht sie sich auf zu ihrem Mann, Catherines Vater, der als Arbeitsmigrant in der über tausend Kilometer entfernten Elfenbeinküste lebt – und kehrt Catherine für immer den Rücken.

Diskriminierung und Aberglaube

Das Mädchen bleibt bei seinem Großvater zurück. Die Leute im Dorf rechnen sich für Catherine kaum Überlebenschancen aus. Einige raten dem alten Mann, den Sterbeprozess aktiv zu beschleunigen, das Mädchen nicht weiter zum Essen oder Trinken zu drängen.

Doch dieser denkt nicht daran, seine Enkelin aufzugeben. Stattdessen gräbt er vor seinem Haus ein Loch und stellt Catherine jeden Morgen hinein, um sie in eine aufrechte Haltung zu bringen. Die jeweilige Positionierung wechselt er mehrmals am Tag. Er massiert auch Catherines Arme und Beine, hegt die Hoffnung, auf diese Weise die Muskulatur mobilisieren zu können.

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Monate später erhält der alte Mann Besuch von einem Fieldworker – eine Art Sozialarbeiter, der in der Regel von Nichtregierungsorganisationen beschäftigt wird. Dieser Fieldworker organisiert schließlich für Catherine Therapiestunden in einem sechs Kilometer entfernten Rehabilitationszentrum. Von nun an bringt der Großvater seine Enkelin jeden Tag mit seinem Esel dorthin. Weil das Kind nicht sitzen kann, legt er es auf das Tier und hält es fest. Für eine Strecke benötigen die beiden rund anderthalb Stunden.

„Du verschwendest deine Zeit und dein Geld, das ist eine Tortur, du vernachlässigst deine Arbeit!“: Catherine wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, während sie leise auf Bissa – eine der Ost-Mande-Sprachen, die in der Provinz Koulpélogo gesprochen werden – erzählt, was ihr Großvater damals zu hören bekam. Unkenrufe, die ins Leere laufen. Fast schon zum Trotz wird Catherines Beschützer noch hartnäckiger – was sich bezahlt macht: Drei Monate später kann Catherine wieder sitzen, nach einem Jahr gelingt es ihr, mit Hilfe von Holzkrücken vorwärtszukommen. Allerdings ist bis heute ungeklärt, was genau damals die Lähmung ausgelöst hat.

Das Rehazentrum von einst wird seit 2002 von der internationalen Organisation „Licht für die Welt“, die in Wien ihren Hauptsitz hat, betrieben. Ziel des NGO-Fachverbandes ist die Stärkung von Rechten und Chancen von Menschen mit Behinderungen in Ländern, in denen der Bedarf laut Human Development Index am größten ist. Burkina Faso ist eines davon. Auch gilt die gemeinnützige Organisation als Pionier, wenn es um den Bereich „Inklusive Bildung“ geht, ganz besonders in der Schwerpunktregion Subsahara-Afrika.

Giftige Chemikalien schädigen den Fötus

Wo soziale Infrastruktur und Gesundheitsversorgung fehlen, wie es in Burkina Faso der Fall ist, gibt es mehr Krankheiten und Unfälle. Das wiederum erhöht das Risiko für Behinderungen. Weitere Ursachen für physische oder mentale Beeinträchtigungen sind armutsbedingte Unter- und Mangelernährung, unzureichende Vor- und Nachsorge für Schwangere und ihre Kinder, prekäre Hausgeburten (viele Behinderungen entstehen durch Sauerstoffmangel bei der Entbindung), der fehlende Schutz von Schwangeren am Arbeitsplatz (im Goldbergbau wird häufig mit giftigen Chemikalien hantiert, die den Fötus schädigen) oder der Aberglaube: Bei Entwicklungsverzögerungen wird etwa das Kind versteckt gehalten und erhält keine Frühförderung.

Mangelernährung, unzureichende Vor- und Nachsorge bei Müttern oder prekäre Hausgeburten begünstigen physische und mentale Beeinträchtigungen.

Menschen mit Behinderungen oder ihre Mütter sind zudem außergewöhnlich oft mit Diskriminierung konfrontiert und werden ausgegrenzt. Diese sozialen und institutionellen Barrieren wiegen schwer und haben direkte Auswirkungen auf das Leben und den Alltag der Betroffenen.

In Catherines Kindheit ist es noch unmöglich, als gehbehindertes Kind eine Schule zu besuchen. Stattdessen geht das Mädchen den Frauen auf dem Markt zur Hand. Lesen, Schreiben und Rechnen lernt sie erst als 20-Jährige, nachdem sie ein Alphabetisierungstraining von „Licht für die Welt“ absolviert hatte.

Einer der „Localworker“ (eine zentrale Maxime von „Licht für die Welt“ ist, auf Mitarbeiter vor Ort zu setzen, um Hilfe zur Selbsthilfe zu gewährleisten) organisiert daraufhin für Catherine einen Platz in einem Kreditförderprogramm für Frauen. Dort lernt sie einerseits, was es heißt, ein Geschäft zu führen. Andererseits erhält sie ein Darlehen, um sich einen Grundstock an Waren und die anfangs erwähnte Decke zulegen zu können.

„Binnen Monaten hatte sie ihre Schulden zurückgezahlt“, übersetzt Philippe Compaoré, Programmleiter von „Licht für die Welt“ in Burkina Faso. „Das zu betonen, ist ihr sehr wichtig.“

Von dem Geld, das Catherine erwirtschaftet, leben sie und ihre vier Kinder. Seit dem Tod ihres Mannes ist sie ganz auf sich gestellt: Catherine war seine Drittfrau in einer arrangierten Ehe, Polygamie ist in Burkina Faso auch bei Christen nicht unüblich. Wenn ihr jemand beisteht, dann sind es die noch lebenden Verwandten ihres Großvaters. Als Vorsitzende des Katholischen Frauenverbandes in der Region liegt es allerdings mittlerweile an ihr, ihrem Umfeld zumindest in zwischenmenschlichen Angelegenheiten eine Stütze zu sein. Philippe Compaoré sieht in ihr ein perfektes Role Model, das Frauen mit vergleichbaren Schwierigkeiten Perspektiven aufzeigen kann.

Dem Mädchen wird Faulheit unterstellt

Rund 80 Kilometer nördlich von Catherines Laden sitzt die 14-jährige Carolin bei 44 Grad im Schatten eines Baobabs (Affenbrotbaum). Es ist der Vorplatz des „Community Based Rehabilitation Center“ nahe der Stadt Manga. Sie wartet auf ein Augenscreening, weil sie am nächsten Tag operiert werden soll. Sie ist die jüngste unter den 103 Patienten, die sich in den kommenden 48 Stunden einer Grauen-Star-OP unterziehen werden. Einmal im Quartal absolviert der Augenchirurg François Compaoré, ein Burkinabé aus der Hauptstadt Ouagadougou, für „Licht für die Welt“ diesen Operationsmarathon in dem zur mobilen Augenklinik umfunktionierten CBR-Center.

Compaoré geht davon aus, dass Carolin bereits mit der trüben Linse geboren worden ist. Innerhalb der ersten Lebensjahre dürfte niemand bemerkt haben, dass das Sehvermögen des Mädchens schwer beeinträchtigt ist. Erst in der Schule fiel Carolin auf. Allerdings unterstellten ihr Lehrer wie Eltern zunächst, sie wäre demotiviert, desinteressiert, ja faul. Zurückgeführt wurde das auf die Tatsache, dass Carolin die Aufgaben an der Tafel weder abschrieb noch vorlas, wenn sie dazu aufgefordert wurde.

Carolins Vater meldete seine Tochter daraufhin vom Unterricht ab und ließ sie tagsüber als Assistentin bei einer Reishändlerin mitlaufen. Es war die Fieldworkerin Angel von einer der lokalen Partnerorganisationen von „Licht für die Welt“, die auf das Mädchen aufmerksam wurde und eine Untersuchung seiner Augen in die Wege leitete. Durch den Eingriff werden sich Carolins Zukunftsaussichten massiv verbessern: Sie wird zum ersten Mal richtig sehen können, darf wieder in die Schule gehen, lernen, Freundschaften schließen. Auch die Gefahr einer weiteren Stigmatisierung ist gebannt. Ihre Familie und ihr unmittelbares Umfeld haben verstanden, auch dank der nötigen Aufklärung durch Fieldworkerin Angel, dass Carolins Sehschwäche nicht von einer höheren Macht, sondern vermutlich durch einen genetischen Defekt ausgelöst worden war.

Carolins Familie hat verstanden, dass die Sehschwäche des Kindes nicht von einer höheren Macht, sondern vermutlich durch einen Gen-Defekt ausgelöst worden war.

Auch die Bäuerin Bibata (50) wurde in der von "Licht für die Welt" unterstützten Augenklinik vorstellig. Bis vor kurzem war es in ihrer Familie üblich, bei gesundheitlichen Beschwerden sogenannte Rebouteurs (Naturheiler) zu konsultieren. Viele Burkinabé, vor allem in ländlichen Gegenden, liegen dem Gerücht auf, die Behandlung durch einen Naturheiler wäre günstiger als eine klassische schulmedizinische Therapie. Ein Trugschluss, der etwa Bibatas Mann (85) teuer zu stehen kam. Und das nicht nur in finanzieller Hinsicht. Seit dem Eingriff durch den Naturheiler ist er zur Gänze erblindet.

Der Greis war es letztlich, der seine Frau darin unterstützte, sich professionelle Hilfe zu suchen. Fiele deren Arbeitskraft auch noch aus, stellte das für das Paar eine existenzielle Bedrohung dar. Seit der Erblindung ihres Mannes liegt es ausschließlich an Bibata, die Grundnahrungsmittel Sorghum und Mais anzubauen, mit Hilfe des Esels die Felder zu bewirtschaften und die fünf Ziegen zu versorgen. Die einzige Einnahmequelle außerhalb der Land-und Viehwirtschaft waren bis vor kurzem die selbst getöpferten Töpfe und Krüge, die Bibata am Rand der Hauptstraße aufgereiht und verkauft hatte. Doch seit sie am Grauen Star erkrankt ist, kann sie nicht mehr töpfern, was das Familieneinkommen drastisch verringert hat.

Auf staatliche Unterstützung können weder Bibata und ihr Mann, noch Caroline oder Catherine bauen. In Burkina Faso existiert kein Pensionssystem nach westlichem Vorbild. Nur Personen, die sich in einem Angestelltenverhältnis befinden, haben überhaupt die Möglichkeit, in eine Rentenkassa einzuzahlen. Der Anteil derjeniger, auf die das zutrifft, befindet sich allerdings im Promillebereich. Frauen gehen in der Regel eine Versorgungsehe ein. Eine andere Art der Absicherung ist de facto kaum möglich. Ein Versicherungsschutz gegen Krankheit-, Unfall- oder Arbeitslosigkeit ist ebenso wenig üblich. Die meisten Menschen in Burkina Faso sind darauf angewiesen, dass sie im Notfall auf die Hilfe seitens des Familienverbandes zurückgreifen können.

Selbstvertrauen als Lektion

„Licht für die Welt“ hat vor mehr als zwanzig Jahren damit begonnen, für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Burkina Faso zu kämpfen. Seit damals wurde vieles erreicht, aber es mussten auch Rückschläge – allen voran aufgrund der terroristischen Bedrohungen – hingenommen werden. Fragt man Catherine, welche der Hilfsangebote ihr im Nachhinein am meisten genutzt haben, sagt sie entschieden: „Ich habe gelernt, Selbstvertrauen aufzubauen. Das ist eine der wichtigsten Lektionen, die man als Frau mit Behinderung in Burkina Faso zum Leben und Überleben benötigt.“

"Licht für die Welt"

ist ein europäischer Fachverband von Nichtregierungsorganisationen mit Hauptsitz in Wien. Die gemeinnützige NGO setzt sich zugunsten von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern ein.

Spendenkontonummer: IBAN: AT92 2011 1000 0256 6001 BIC: GIBAATWWXXX
Kennwort: „Licht für die Welt“

Burkina Faso: Sahelzone und Savanne

Landkarte

Der westafrikanische Staat Burkina Faso liegt südlich des Nigerbogens und grenzt an Mali, Niger, Benin, Togo, Ghana und die Elfenbeinküste. Mit seiner Fläche von 274.220 Quadratkilometern ist das Land rund drei Mal so groß wie Österreich. Der Binnenstaat mit Anteilen an der Sahelzone ist vom tropischen Klima und diversen Savannenlandschaften geprägt. Die Hauptstadt des rund 20,1 Millionen Einwohner(innen) zählenden Landes ist Ouagadougou, die Amtssprache ist Französisch. Daneben werden etwa 60 einheimische Sprachen gesprochen.

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