Nora Tödtling-Musenbichler - © Foto: Andreas Hofer

Palliative Care: "Im Sterben sind alle gleich"

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Was bedeutet "Würde am Ende des Lebens" für Menschen, die obdachlos oder im Gefängnis sind? Über Palliative Care am Rand der Gesellschaft.

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Was bedeutet "Würde am Ende des Lebens" für Menschen, die obdachlos oder im Gefängnis sind? Über Palliative Care am Rand der Gesellschaft.

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Ein mächtiger weißer Bau, ein Meer aus Schlüsselblumen auf der Wiese, eine Pferdekoppel gegenüber und mit jedem Lungenzug die gute Wienerwaldluft: Wer erstmals auf der Wilhelmshöhe im niederösterreichischen Tullnerbach-Pressbaum landet, wähnt sich auf einer Art "Zauberberg". Wie in Thomas Manns Jahrhundertroman hat man auch hier den Patienten einst ausgedehnte Liegekuren verordnet; und wie auf Manns fiktivem "Berghof" im schweizerischen Davos verbringen die Menschen auch auf der Wilhelmshöhe oft viele Monate und Jahre. Es sind freilich keine hanseatischen Kaufmannssöhne oder italienischen Humanisten, die den Weg hierher fanden und elaboriert disputieren; es sind schwerkranke Häftlinge, die von allen Strafanstalten des Landes hierher verlegt wurden - und nicht wenige von ihnen bleiben hinter den hohen Zäunen und vergitterten Fenstern bis zu ihrem Tod.

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17 Männer und drei Frauen werden derzeit auf der "Sonderkrankenanstalt Wilhelmshöhe", einer Außenstelle der Justizanstalt Wien-Josefstadt, behandelt: Die Palette ihrer Erkrankungen reicht von Tuberkulose über die chronische Lungenerkrankung COPD bis zum metastasierenden Brustkrebs oder Prostatakarzinom. Zehn weitere Insassen kommen als "Systemerhalter" dazu: Sie arbeiten in der Küche oder Haustechnik, wischen die Gänge des alten Gebäudes, das 1910 als "Erholungsheim für Händler und Gewerbetreibende" errichtet wurde, und kümmern sich um den Garten. Vom wiederholten Diebstahl bis zum Mord seien alle Delikte vertreten, erklärt der stellvertretende Justizwachkommandant Willibald Lindenbauer bei einer Führung durch das Gebäude. Normalerweise sei man für knapp 70 Insassen ausgerichtet, doch wegen dringend nötiger Sanierungsarbeiten habe man das halbe Haus gesperrt.

"Problemfälle abgelagert"

So veraltet die Zellen und Isolationshafträume für Tuberkulosepatienten auch sind: Verglichen mit der überfüllten Justizanstalt Josefstadt sind die Zustände hier auf der Wilhelmshöhe fast familiär. "Das Miteinander ist völlig anders", sagt Lindenbauer, ein freundlicher Mann mit akkurat gestutztem Schnauzer. 25 Justizwachebeamte sind abwechselnd in der Außenstelle im Einsatz, dazu kommen noch sechs Pflegepersonen und zwei Ärzte mit 24-Stunden Bereitschaftsdienst.

Einer von ihnen, der Lungenfacharzt Friedrich Knechtel, hat sich gerade von seinen Begutachtungen freigeschaufelt und im Aufenthaltsraum eine Lucky Strike angezündet. Zwölf Jahre ist es her, dass er als ärztlicher Leiter auf die Wilhelmshöhe berufen wurde. "Bei uns werden die Problemfälle des österreichischen Strafvollzugs abgelagert", sagt Knechtel. Politisch korrektes Sprechen ist dem drahtigen 54-Jährigen ebenso fremd wie übetriebene Sentimentalität. Dazu hat er in all den Jahren schon zu viel erlebt. Es war gleich zu Beginn seiner Tätigkeit hier heroben, als er mit einem schwerkranken Sexualstraftäter konfrontiert wurde, der vom Richter als geistig abnormer Rechtsbrecher eingestuft worden war. "Der hat sämtliche Häf'n durchgemacht, aber die konnten ihn nicht mehr behandeln -und ein öffentliches Spital wollte ihn nicht nehmen", erinnert sich Knechtel. Der Häftling sollte der erste sein, der auf der Wilhelmshöhe geplant sterben würde - trotz aller Widerstände in der Justiz.

Es geht darum, diesen Menschen, die oft keine Heimat hatten, zumindest in ihrer letzten Zeit das Gefühl zu geben, dass sie zuhause sind.

Nora Musenbichler

Heute hat man drei bis fünf Sterbefälle pro Jahr zu verzeichnen. Wer auch immer in Österreichs Haftanstalten schwerkrank oder sterbend ist bzw. auf Grund seines Alters oder eines anderen Grundes mehr Freiheiten braucht, wird auf die Wilhelmshöhe gebracht. Dass es einen steigenden Bedarf an palliativer Begleitung in Gefängnissen gibt, zeigt schon ein Blick auf die Statistik: Rund 300 der derzeit 9000 Personen im Österreichischen Strafvollzug sind über 60 Jahre alt. Um die Mitarbeiter für diese besondere Herausforderung zu schulen, hat die Strafvollzugsakademie im Jahr 2010 erstmals eine Einführung in das Problemfeld Hospiz angeboten -gehalten von Expertinnen des CS Hospiz Rennweg der Caritas Socialis im dritten Wiener Bezirk. Bis heute werden die Pflegepersonen und Justizwachebeamten auf der Wilhelmshöhe in eigenen Vorträgen und Workshops weitergebildet -von der Schmerztherapie bis zu Möglichkeiten des Abschiednehmens.

Doch was macht "Palliative Care" sonst noch im Strafvollzug aus? "Man darf sich das nicht so vorstellen, dass wir Duftlamperl aufstellen oder die Lieblingsspeise als Henkersmahlzeit bringen", erklärt Friedrich Knechtel. "Es geht einfach darum, dass Menschen im streng reglementieren Gefängnis-System etwas mehr Freiheiten erhalten, dass sie mehr Zeit für Besuche bekommen und dass man insgesamt versucht, die letzten Wochen und Tage möglichst menschenwürdig zu gestalten."

Ein Grundsatz, der auch für andere Menschen am Rand der Gesellschaft gilt: zum Beispiel für jene ohne festen Wohnsitz. 1993 hat man zwar in Graz mit dem VinziDorf in St. Leonhard eine Dauerherberge für 35 obdachlose Männer geschaffen. "Viele davon werden aber durch Alkoholismus oder psychische Erkrankungen relativ schnell pflegebedürftig - und wir haben es bislang oft nicht geschafft, sie weiter in ihrem gewohnten Umfeld zu begleiten", erzählt Nora Musenbichler, sechs Jahre lang stellvertretende Leiterin des VinziDorfes und nun Koordinatorin aller 39 österreichischen VinziWerke, die sich nach dem Vorbild des heiligen Vinzenz von Paul (1581-1660) um Menschen in Not - insbesondere Obdachlose - bemühen. Am Lebensende in ein Spital zu müssen, bedeutet für diese Menschen freilich meist, von ihren Vertrauten getrennt zu werden; schließlich ist ein Krankenhaus für diese Klientel oft die ultimative Hürde.

Dass nun direkt beim VinziDorf ein eigenes Hospiz mit zwei Betten eröffnet wird, bedeutet für Musenbichler einen lange ersehnten Wendepunkt. "Es geht darum, diesen Menschen, die oft keine Heimat hatten, zumindest in ihrer letzten Zeit das Gefühl zu geben, dass sie zuhause sind", sagt die ausgebildete Hospizbegleiterin, die selbst etwa 20 VinziDorf-Bewohner beim Sterben begleitet hat. Einen Fall hat sie noch besonders lebhaft in Erinnerung (siehe Bild oben): Es war ein alter Mann, den sie im VinziDorf gern "Opa" nannten - und der stets nach Zigarettenstummeln Ausschau hielt, um sich aus den Tabakresten neue Glimmstängel zu drehen. "Auch wenn das Leben dieser Menschen nicht immer ein gelingendes war", sagt Musenbichler, "zumindest am Schluss soll man ihnen ein friedvolles und würdevolles Leben ermöglichen."

"Weil jeder jeden kennt"

Dass dieser Zugang auch hinter den Gittern der Wilhelmshöhe gelingt, ist nicht zuletzt der Kleinheit der Anlage geschuldet. "Hier heroben ist es am menschlichsten, allein schon deshalb, weil jeder jeden kennt", erklärt Matthias Geist, der als evangelischer Gefängnisseelsorger ein Mal pro Monat in den Wienerwald fährt, um sich - neben Johann Georg Herberstein, dem katholischen Pfarrer von Pressbaum - um die Insassen zu kümmern. In einem Massenbetrieb wie der Justizanstalt Josefstadt mit über 1200 Insassen und ständig wechselnden Untersuchungshäftlingen sehe die Situation ganz anders aus, weiß der Seelsorger.

Den Mitinsassen komme jedenfalls bei der Begleitung schwerkranker Häftlinge eine zentrale Rolle zu: "Hier gibt es oft sehr menschliche Reaktionen bei Leuten, die man sonst für Ungustln hält - bis dahin, dass einer dem anderen die Windeln wechselt", erzählt Geist. "Aber es ist auch immer eine Gratwanderung, wieviel Verantwortung man jemandem zumuten kann." Umso notwendiger sei es, niemanden zu zwingen, mit einem Sterbenden eine Zelle zu teilen. Schließlich ist die Zeit lang, die man mit Beginn des Nachtdienstes um 14 Uhr 30 gemeinsam hinter Schloss und Riegel verbringt.

Im Gefängnis sterben: Daran mag Alija S. noch gar nicht denken. Seit vier Monaten ist der 65-jährige gebürtige Serbe wegen wiederholten Taschendiebstahls auf der Wilhelmshöhe, wo man ihn als "sehr netten und guten Arbeiter" schätzt; 20 Monate muss er noch absitzen. Ob er die angesichts seiner Diagnose Blasenkrebs überleben wird, ist fraglich. Bei der Chemotherapie, die er im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien erhalten hat, macht man derzeit jedenfalls eine Pause. "Wenn wir ihn nicht vorzeitig freibekommen, wird er hier sterben", erzählt Friedrich Knechtel und zieht an seiner Lucky Strike. Wie ihn die langjährige Arbeit mit schwerkranken Häftlingen, dieser Subgruppe einer Subgruppe, verändert habe? "Gar nicht", sagt Knechtel. "Natürlich kann es unbewusst den Zugang erschweren, wenn man weiß, was jemand angestellt hat. Aber als Mediziner darf ich keine Wertung vornehmen, sonst begeben wir uns 70,80 Jahre zurück. Und im Sterben sind sowieso alle Menschen gleich."

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