Immun gegen Verzweiflung

Werbung
Werbung
Werbung

Noch immer stoßen viele Menschen in Krisensituationen bei Behörden auf wenig Verständnis und bei Medien auf die halbe Wahrheit.

Müssen Hilfesuchende oder auch ihre rechtsfreundliche Vertreterschaft mit müden Stimmen Leid demonstrieren, um ernst genommen, ja überhaupt gehört zu werden? Reicht es nicht, krisenhaftes Geschehen zu berichten?

Offensichtlich müssen Menschen in Krisensituationen filmreife Schauspielleistungen erbringen, um die Vorurteilsbarrieren derjenigen zu überwinden, die von Amts wegen zu kommentarloser Erteilung von Rat und Hilfe bestellt sind – bei Gericht, bei Polizeidienststellen oder bei Jugendämtern –, um nicht sofort abgewimmelt zu werden. Das höre ich oft von den Anruferinnen am niederösterreichischen Frauennotruftelefon wie auch bei meinen Gesundheitsförderungsvorträgen. Sie ernten damit aber selten Verständnis – meist wird ihnen noch eine Laien-Diagnose verpasst. „Schon wieder der (die)“, heißt es zuerst, dann: „Der nervt!“ und schließlich: „Das ist ein Querulant!“ Das wiederum erfahre ich in vielen Seminaren für Verwaltungsbeamte. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass es sich aber um traumatisierte Menschen handelt, die Wertschätzung einfordern und um ihre Selbstachtung ringen.

Grenzen des Mitgefühls

In den letzten zwanzig Jahren hat sich langsam herumgesprochen, dass die Bewältigung eines Traumas meist längere Zeit erfordert als nur ein „Trauerjahr“. Die Fantasien dazu umfassen vor allem sexuelle Misshandlungen in Kindheit und Jugend – da fällt es eher leicht, sich mit Ohnmacht und Hilflosigkeit des Opfers zu identifizieren; vor allem, wenn man selbst einmal unter unerwünschter „Anmache“ gelitten hat. Bei Vergewaltigungen hingegen wird dieses Mitgefühl noch immer verweigert: Zu stark hat sich die Verteidigungslinie des „Selber schuld!“ in den Gedächtnisspuren des Gehirns eingeprägt – und genau das wollen ja auch die Anwälte, die diese Argumentation bemühen, um ihren Mandanten frei zu bekommen. Dazu wird auch immer wieder der Mythos vom „unbezähmbar starken“ Sexualtrieb angeführt: „Er konnte sich halt nicht beherrschen.“ Tatsächlich hieße es besser: Er wollte nicht. Neuerdings kommt noch der Mythos vom vermutlich eigenen Opfersein der Täter dazu. Und die Anklage derjenigen, denen nicht geglaubt wird, dass sie nichts bemerkt haben. Alles Fantasien, die davor schützen, Machtmissbrauch, Demütigung, Gewalt wahrzunehmen und wahr zu nehmen – und bei sich selbst nachzuforschen, ob man nicht auch selbst andere runtermacht und damit traumatisiert.

„Selber schuld!“

Es gibt nicht nur Makrotraumen wie Naturkatastrophen, schwere Unfälle, grobe Delikte. Viele Mikrotraumen – Einbrüche, Kündigungen, Scheidungen, finanzieller Ruin und vor allem toxische Worte („schwarze Pädagogik“) – haben den gleichen Effekt: Sie zerstören Gesundheit. Deswegen sollten vor allem jene, die psychosoziale Machtbefugnisse besitzen, präventiv geschult werden, wie man besonders Traumatisierungen, aber auch Re-Traumatisierungen vermeidet. Wir wissen nie, welche Traumata jemand erlebt hat, aber wir können damit rechnen, dass immer wieder, meist unbewusst, Impulse zur Selbstheilung gesetzt werden. Leider führen sie meist zu weiteren Verletzungen.

Ein Beispiel: Herbert ist das, was man gemeiniglich einen „Kümmerer“ nennt: Die summierten Mikrotraumen seiner Kindheit, unerwünscht, ungeliebt, unbeachtet zu sein, versucht der plumpe Endfünfziger dadurch zu bewältigen, dass er sich im Beruf wie privat darum bemüht, andere – wo immer es geht – zu unterstützen. Seine sanfte Unterwürfigkeit wird als Tarnung ausgelegt, vor allem als er ein einziges Mal explodiert und sich zu einer Sachbeschädigung hinreißen lässt. Sofort heißt es: „Wir haben das ja ohnedies immer gewusst, dass er uns nur täuschen wollte.“ Aus der Sachbeschädigung wird ein Mordversuch konstruiert, der medial ausgeschlachtet wird; es folgen 14 Tage Untersuchungshaft, Führerscheinentzug, Verlust des Arbeitsplatzes, der Freunde, Kommunikationsabbruch in der Familie; wieder in Freiheit beherrschen ihn Selbstmordimpulse. Nach drei Monaten folgen Strafverfahren und Arbeitsgerichtsprozess. Die Urteile: eine geringe Geldstrafe für den – längst gutgemachten – Sachschaden, Freispruch in allen anderen Beschuldigungen, Schadenersatzzuspruch im Arbeitsgerichtsprozess. Seinen Führerschein hat er deswegen nicht wieder – dafür Spott und Hohn der Beamten, die sich daran weiden, den ehemals Wohlbestallten nicht mehr beneiden zu müssen.

Oder Kurt: Der Pflichtschullehrer sprang dazwischen, als ein Schüler einen anderen im Turnunterricht tätlich angriff; der Schläger stürzte und verletzte sich. Sein erboster Vater zeigte den Lehrer an, die Regionalmedien stürzten sich auf die „G’schicht“, berichteten genüsslich über den verrohten Pädagogen und begrüßten seine Suspendierung. Über seinen Freispruch berichteten sie nichts. Den Prozess musste er ohne Supervision oder Begleitung durchstehen, ebenso die Wiederkehr an seine alte Schule. Dort erlebt er jedes Mal Herzrasen, Schwindel, Panikattacken, wenn er den Weg zum Turnsaal antritt. Bis heute hat es niemand für nötig gefunden, ihn offiziell zu rehabilitieren.

Die halbe Geschichte

Oder Lisbeth: Die Turnusärztin sucht Hilfe bei einer Mobbingberatungsstelle. Egal, an welche Abteilung sie kommt, immer eilt ihr schon der Ruf voraus, ganz unmöglich zu sein, und so wird sie dann auch behandelt: Es werden ihr Fallen gestellt, Unterlagen versteckt, Medikamente falsch vorbereitet, jemand kotzt sogar in das Waschbecken ihres Dienstzimmers – aber die Psychologin der Mobbingberatungsstelle glaubt ihr ebenso wenig wie ihre Vorgesetzten, obwohl sie Zeugen aufweisen kann. Lisbeth ist keine modische Erscheinung, keine Barbiepuppe wie die Ärztinnen im Fernsehen, ganz im Gegenteil: Sie strahlt Kummer und Sorge aus. Was niemand weiß und was sie auch ganz sicher niemandem aus ihrer Kollegenschaft verraten wird: Sie hat als Kind zwei Mordversuche seitens ihrer Mutter überlebt. Es hat immer Ursache, wenn ein Gesicht nicht unbekümmerte Heiterkeit signalisiert – nur besitzt kaum jemand ein Verhaltensmodell, wie mit den eigenen Reaktionen auf solche „Botschaften“ umzugehen ist.

Das Schreien der Kinder

Die jüngere computergestützte Gehirnforschung hat mit der Entschlüsselung der sogenannten Spiegelneuronen eine brauchbare Erklärung geliefert, weshalb sich so viele Menschen mit Zynismus oder Brutalsprache gegen das Angestecktwerden durch die Gefühle anderer wehren: Sie werden tatsächlich durch das „Feuern“ von Spiegelnervenzellen zum gleichartigen Mitfühlen motiviert – aber die meisten wollen das nicht (außer bei Heiterkeit etwa). Es erinnert wohl zu sehr an die eigenen Traumatisierungen. Für viele ist besonders das Weinen kleiner Kinder unerträglich – es zerreißt einem fast das Herz, diese unendliche Verzweiflung – also wird sie schnell in Wut umgewandelt, als Nervensägerei oder Manipulationsversuch („Krokodilstränen“) umgedeutet und mit den Fäusten ausgedrückt.

Auch Beamte, männlich und leider auch weiblich, schützen sich oft vor dieser Betroffenheit dadurch, dass sie sich auf eine übergeordnete Beobachtungs- und Bewertungsdistanz zurückziehen. Dass sich dann Ratsuchende oft erst recht und intensiv anstrengen, eine verständnisvolle Reaktion zu „erzwingen“, macht sie wiederum erst verdächtig: Je nach eigener alternativer Spiegelung – oder erlernter Interpretation – spürt man den Versuch zu Dominanz, Erpressung oder Drohung – nur die Verzweiflung will man nicht spüren. Sie könnte hilflos machen. Da helfen dann Begründungen wie Einsparungszwänge und Personalverknappung – in der Folge Zeitdruck und Überlastung –, um respektvollen Umgang zu minimieren. Was aber wirklich helfen würde, sind mehr Information und geeignete Verhaltensmodelle.

Die Autorin ist Psychoanalytikerin und Juristin.

www.perner.info

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung