Schule - © Margit Ehrenhöfer

Inklusion mit Ablaufdatum: Behinderung und Förderbedarf im Schulsystem

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Mit der neunten Schulstufe endet für Kinder mit Behinderung oder sonderpädagogischem Förderbedarf inklusives Lernen automatisch. Was ihnen für die Zukunft bleibt und wie Covid-19 den Schulalltag beeinflusst.

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Mit der neunten Schulstufe endet für Kinder mit Behinderung oder sonderpädagogischem Förderbedarf inklusives Lernen automatisch. Was ihnen für die Zukunft bleibt und wie Covid-19 den Schulalltag beeinflusst.

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„Wer hat denn hier Haare?“, fragt die Museumsführerin eine Gruppe Kinder und zieht die zusammengehaltenen Zeigefinger und Daumen von ihren Wangen zur Seite weg. „In der Gebärdensprache bedeutet das ‚Katze‘.“ In der Vitrine hinter der Kindergruppe sind Hörapparate und Hörrohre in unterschiedlichen Größen aufgereiht. „Taub. Stumm.“ steht auf der Informationstafel darüber. Der Raum rundherum ist einer Mathematikklasse um 1900 nachempfunden. Kaiser Franz-Joseph blickt neben der Tafel auf die Schulbänke herab.

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Im Schulmuseum Michelstetten im Weinviertel können Besucher(innen) in die Entwicklung des österreichischen Schulsystems eintauchen. Aktuell gibt der Schwerpunkt „Blind. Taub. Krüppel … Zur Geschichte von Behinderung und Schule“ (noch bis 31. Oktober) Anstoß, sich mit Vielfalt und Inklusion und der Frage nach einer „Schule für alle“ auseinanderzusetzen. Die entsprechenden Bereiche in den fünf historischen Klassenräumen widmen sich jeweils einer Form von Behinderung. Am Ende steht die Frage: Ist die Inklusion aller in ein gemeinsames Lernen möglich?

Inklusion statt Sonderschule

Wie sieht der Zugang zu Bildung für Kinder mit Sinnes- oder kognitiven Behinderungen, körperlichen Einschränkungen sowie Lernschwierigkeiten heute aus? Umgangssprachlich spricht man meist von der Sonderschule, die Kinder und Jugendliche, welche dem Regelunterricht nicht folgen oder beiwohnen können, besuchen.

Dabei gibt es „die Sonderschule“ in Österreich grundsätzlich nicht, denn man unterscheidet zwischen zehn verschiedenen Sparten. Neben der Allgemeinen Sonderschule (ASO) gibt es etwa jene für Gehörlose, für Blinde oder Schwerstbehinderte beziehungsweise Kinder mit erhöhtem Förderbedarf. Bis zum Jahr 2020 hätten Sonderschulen überdies zur Ausnahme werden sollen. Stattdessen standen Modellregionen mit inklusivem Unterricht auf dem Plan, in denen Schülerinnen und Schüler mit und ohne Beeinträchtigung unter einem Dach unterrichtet werden sollten. Die Realität sieht anders aus.

Sonderschulen hätten bis 2020 zur Ausnahme werden sollen. Die Realität sieht anders aus.

Im Schuljahr 2019/2020 gab es in Österreich 29.476 Schüler(innen) mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF), 36,2 Prozent davon besuchen nach wie vor eine Sonderschule. Vorreiter unter den Bundesländern sind Kärnten und die Steiermark mit je über 80 Prozent inklusivem Unterricht, Nachzügler Niederösterreich und Wien mit jeweils rund 50 Prozent. „In Wien soll es keine reinen Sonderschulstandorte mehr geben“, zeigt Rupert Corazza von der Wiener Bildungsdirektion Veränderungswillen. Man setzte hier vor allem auch auf verkehrte Integration – also dem Unterrichten von Regelschüler(innen) an Sonderschulstandorten. 40 Prozent der Schüler(innen) an Wiener Sonderschulen seien ohne Förderbedarf oder Behinderung.

Eine wichtige Differenzierung – denn körperlich behinderte Kinder haben nicht automatisch sonderpädagogischen Förderbedarf. Festgestellt wird dies gemeinsam von Schule und Eltern – meistens bei der Einschulung. Liegen Lernschwierigkeiten oder eine Behinderung vor, wird abgewogen, ob ein Kind im Regellehrplan oder aufgrund von SPF nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet wird. Für Kinder mit körperlicher Behinderung ohne SPF bleibt der Schulstoff also derselbe wie im Regelbetrieb, die Schüler(innen) erhalten aber entsprechende Pflege und Betreuung.

Soziales Zusammenleben

Petra Buchner (Name geändert) hat Erfahrung mit der Vereinbarkeit verschiedener Lehrpläne innerhalb einer Klasse. Die Sonderschulpädagogin aus Niederösterreich unterrichtet gleichzeitig Schüler(innen) im Vor- und Volksschulalter, lernschwache Kinder mit klassischem ASO-Lehrplan, als auch jene mit erhöhtem Förderbedarf. Die Klassen von fünf bis acht Kindern werden an ihrer Schule nicht nach Schulstufe, sondern nach bestmöglicher Gruppendynamik gebildet. Pädagogische Verstärkung erhält sie nach Bedarf – es gibt ein Stundenkontingent für die gesamte Schule –, die Schulassistenz kümmert sich um Pflegeaufgaben wie Füttern und Wickeln. „Wir sind hier wirklich gut ausgestattet“, betont Buchner.

Dem Konzept des inklusiven Unterrichts kann Buchner weniger abgewinnen. „Die Kinder merken, dass sie in einer ‚normalen‘ Klasse anders sind. Das wird ihnen ja ständig vorgehalten. Ich habe das Gefühl, dass sie bei uns total aufblühen. Auch, weil sie einmal etwas besser können, als andere.“

Starker Befürworter des inklusiven Unterrichtsmodells ist Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe. „Wir tun viel, um erwachsene Menschen zusammenzubringen, vergessen aber, das schon früher zu tun“, so Weber. „Nicht nur das akademische Lernen, sondern auch das soziale Zusammenleben ist wichtig. Wie geht man mit unterschiedlichen Menschen in unserer Gesellschaft um? Das könnten wir von vornherein lernen, nehmen diese Chance aber nicht wahr.“

Vor allem in ländlichen Gebieten sind die Ressourcen für inklusiven Unterricht nicht immer vorhanden. „Wir müssen vor Ort die verantwortlichen Personen abholen und mit ihnen konkrete Fahrpläne machen: Wo stehen wir heute? Und was wollen wir in einem Bildungsbezirk erreichen? Sind Bezirke noch wenig entwickelt, dann machen wir die ersten Schritte. Bei weit entwickelten können wir Erreichtes festigen und weiter optimieren“, so Weber.

Und nach der Schule?

Endstation für inklusiven Unterricht ist in Österreich mit dem neunten Schuljahr. Für Kinder mit SPF gibt es keine Alternative zur Sonderschule. Und dann? „Kinder mit SPF aus reinen Sonderschulen gehen typischerweise in eine Werkstätte, in der sie einer Beschäftigungstherapie nachgehen“, erklärt Weber, „während sich unter inklusiv geschulten Kindern vermehrt junge Leute finden, die einen bezahlten Arbeitsplatz bekommen.“

Auch Buchner bestätigt, dass viele ihrer Schüler(innen) später in Werkstätten unterkommen, wobei eine rechtzeitige Anmeldung schon Jahre vorher empfohlen wird. Und dann gibt es Fälle, die gar keinen Anschluss finden. „Es tut weh, wenn man sie entlässt und weiß, sie werden nur zuhause sitzen“, so die Pädagogin. „Diese jungen Menschen fallen aus sozialen Gründen aus dem Bildungssystem. Das Bild des dauerhaft arbeitsunfähigen Menschen im Alter von 20 Jahren macht diese Gruppe zu Außenseitern für den Rest des Lebens“, ergänzt Weber. Blickt man auf die weitere Lebensperspektive Betroffener, sind in Österreich derzeit 21 Prozent der Behinderten armutsgefährdet.

Es tut weh, wenn man Schülerinnen und Schüler entlässt, und weiß, sie werden nur zuhause sitzen.

Petra Buchner, Sonderschulpädagogin

Vergangenen Montag hat im Osten Österreichs das neue Schuljahr bereits begonnen, kommenden startet der Rest des Landes. Die ersten drei Wochen gelten auch in den Sonderschulen als Sicherheitsphase, das bedeutet regelmäßiges Testen und vermehrter Einsatz von Mund-Nasen-Schutz. Kein Problem, heißt es aus der Wiener Bildungsdirektion, die Kinder seien dies mittlerweile gewohnt. „Wir können die Maßnahmen so nicht umsetzen“, berichtet Buchner aus der Praxis. „Auch, wenn der Bildungsminister das glaubt, es können nicht alle Kinder einen Spül-Test machen.“

Die Pandemie hat auch in den Sonderschulen ihre Spuren hinterlassen. Behinderte galten als Hochrisikogruppe – das schürte Sorgen und Ängste bei den Eltern. Für Kinder mit Beeinträchtigung ist jedoch nicht nur der Bildungs- sondern auch der Betreuungsaspekt der Schule ein wichtiger Faktor. Daher waren Sonderschulen auch durchgehend zu Betreuungszwecken geöffnet. Von einem potenziellen Bildungsverlust sieht man sich eher nicht bedroht, denn Flexibilität und Individualität sind hier Alltag. „Die Kinder stellten vor allem viele Fragen“, erinnert sich Buchner, „besonders als ein Kind positiv war, hat sie das beschäftigt.“

Ob im Schulmuseum Michelstetten eines Tages der Ninja-Pass ausgestellt sein wird, bleibt abzuwarten. Dass Krankheiten auch in der Vergangenheit den Schulalltag beeinflussten, verrät ein Spucknapf mit entsprechender Beschilderung: „Zur Verhütung der Lungensucht ist das Ausspucken auf den Fußboden verboten.“

Dieser Text erschien in der FURCHE 36/2021 unter dem Titel "Inklusion mit Ablaufdatum".

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