Intellektuelle Mystikerin, große Christin

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Ruth Pfau (1929-2017) gehört zu den großen Gestalten der Zeit. Die deutsche Ärztin und Ordensfrau kam nach Pakistan, wo sie der Lepra den Kampf ansagte und sogar zur Staatssekretärin aufstieg. Das muslimische Pakistan ehrt die Christin mit einem Staatsbegräbnis.

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Ruth Pfau (1929-2017) gehört zu den großen Gestalten der Zeit. Die deutsche Ärztin und Ordensfrau kam nach Pakistan, wo sie der Lepra den Kampf ansagte und sogar zur Staatssekretärin aufstieg. Das muslimische Pakistan ehrt die Christin mit einem Staatsbegräbnis.

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Karachi, die 20-Millionen-Stadt, steht für eine Welt, deren Gleichgewicht gefährlich ins Kippen geraten ist. Dass diese Metropole der Angst und extremer Gewalt auch ein Ort der Hoffnung blieb, verband sich über Jahrzehnte mit dem Namen einer Deutschen: Ruth Pfau. Am 10. August verstarb, 87-jährig, die Lepraärztin und Nonne in den Morgenstunden friedlich in einem Krankenhaus in Karachi.

Der pakistanische Präsident Mamnoon Hussain nannte in einer Trauerbotschaft ihren Tod "einen großen Verlust für Pakistan". Die "Mutter der Leprakranken", die bereits 1988 die Ehrenstaatsbürgerschaft des muslimischen Landes erhielt, wird nun auch mit einem Staatsbegräbnis geehrt. "Engel von Karachi" oder "unsere Mutter Teresa" nannten sie die Menschen im Land. 1956 war die junge Ärztin, Verlegerstochter aus Leipzig, aus dem prosperierenden Westdeutschland nach Pakistan gekommen, wo sie auf Leprakranke traf und vor deren Elend nicht davonlaufen wollte.

Menschheitsgeißel Lepra

Ihr Leben kann man als persönliche Erfolgsgeschichte - und als Tragödie der kranken Welt erzählen: Sie wurde eine strategisch operierende Organisatorin des Medizinwesens, die -als Nonne Staatsekretärin in einem muslimischen Land! - die Menschheitsgeißel Lepra in den Griff bekam. Im Untergrund, ausgestattet mit einer Spezialerlaubnis von Zia ul Haq, trug sie die Prävention nach Afghanistan, das damals unter russischer Besatzung war. Sie war eine abenteuerlustige, mutige Frau, zu Fuß im abgelegenen Himalajagebiet, immer auf der Suche nach Kranken. Dabei blieb sie eine politisch hellwache Zeitgenossin, die früh in erfolgreichen Büchern Themen wie globale Ungerechtigkeit, Terrorismus und Religionsdialog ins Bewusstein ihrer deutschen Leser trug -nie abstrakt, immer an konkreten Schicksalen und Geschichten exemplifiziert.

Sie war sich bewusst, dass ihre Erfolge nur ein Tropfen auf dem heißen Stein waren. "Meine einzige Heldin in der Wirklichkeit", hat Rupert Neudeck sie einmal genannt: Ärztin, deren Vorbild Darieux in Camus' "Pest" war, und auch als Nonne eine Powerfrau. Ruth Pfau war eine Heilige der Tat, nach dem Geschmack des Franziskus, lange bevor dieser Papst in Rom wurde und dafür plädierte, an die Ränder zu gehen. "Von Karachi nach Rom ist es weit", sagte sie, die es auch in ihrem Orden nicht immer leicht hatte, einmal lakonisch. Sie glaubte nicht an eine zentralistisch geleitete Weisheit. "Ich weiß sicher mehr über die Notwendigkeit von Schwangerschaftsverhütung, als der Papst das wissen kann", sagte sie bei einem Besuch.

Eine Erinnerung an den letzten Besuch bei dieser selbstbewussten Frau, im Marie Adelaide Leprosy Center (MAC), mitten in der Stadt: Karachi in der Nacht, bis zum Einschlafen Discokrach aus den Straßen, amerikanischer Sound, englische Sprache. Durch das Fenster dann die nächtliche Demonstration, ein Massenaufmarsch. Das stakkatogleiche Wiederholen immer eines Schlagworts. Schlachtgesänge. Zwei Uhr morgens dann Gewehrsalven, kurze Pause, neue Salven. Es klang relativ nah. Trotzdem, ich fühlte mich außerhalb der Gefahrenzone. "MAC ist sicher", hatte Ruth Pfau gesagt.

"Das ist nichts Ungewöhnliches", sagt sie am Morgen, auf dem Weg in die Messe über den nächtlichen Lärm: "Jeden Tag werden sechs bis sieben Leute umgebracht. Das ganze Jahr über, täglich, 365 Tage. Es gab in einem Jahr mehr Tote durch Gewaltverbrechen als im Kosovokrieg insgesamt." Und sie fügt hinzu: "Wen hat das im Westen geschert?"

Als ein Gewitter war, fragte ein Gast nach einem gewaltig donnernden Krach nach dem Blitzableiter. Ruth Pfau lakonisch: "Die Bombe war damals sehr nah. Den Krater in der Straße konnte man an diesem Tag aus der Nähe sehen."

Als die Frage aufkam: "Werden die Christen verfolgt?", erzählte sie:

"Als nach dem Mord an Shabhaz Bhatti, dem christlichen Minister für Minderheiten, der Mörder im Gerichtsgebäude vorgeführt wurde, jubelten ihm 100 Richter zu, warfen Blumen und feierten diesen Mörder wie einen Held." Aber ihr Blick war weiter: "In Karachi ist etwas gekippt. und das schwappt auf andere Städte über. Das hat nichts mit dem Konflikt mit Christen zu tun. In Lahore wagen sich die Sufis nicht mehr auf die Straße. Mein Mitarbeiter Dr. Ali Murtazi macht keine Reisen mehr. Er hat einen schiitischen Namen. Obwohl er Sunnit ist. Sie wählen ihre Mordopfer nach Namen aus. Bei den Taliban sind nur Sunniten."

Sie erregt sich über die politische Doppelmoral in Europa: "Die Asylbehörden Österreichs schicken Asylwerber aus Pakistan zurück. Das sei ein sicheres Land. Der gleiche Mann im Außenministerium warnt vor Reisen nach Pakistan."

DNA-Tests, keine Impfungen

Ruth Pfau berichtet in ihren Büchern immer wieder von der Faszination des Islam, von seiner Fähigkeit zur Mystik, dem geistlichen Hunger, der "nicht vom Brot allein" gestillt werden kann. Aber auch von den Abgründen einer fanatisierten Religion. Und von der Notwendigkeit zum Dialog, von Zeichen des Friedens. Schon in den 1980er-Jahren hat sie in ihren Büchern von der Terrorwelle berichtet, die das Land erschütterte. Inzwischen ist diese Welle in den Westen übergeschwappt.

Ein anderes Beispiel, das man so bei uns nicht las: Die Kinderlähmungsaktionen sind nicht mehr durchführbar: Das eigene Militär beschießt die Impftrupps: Amerikaner haben bei ihrer Suche nach Osama Bin Laden DNA-Tests an Kindern gemacht, unter dem Vorwand sie zu impfen. Und die Impfstoffe kommen aus dem Westen

Manchmal resignierte sie. Zuviel Gewalt. Zuviel Ungerechtigkeit, zu groß die Korruption. Die ganze Situation ist hoffnungslos. Und wir haben keine Hoffnung, dass sich irgendetwas bessert. Da hilft nur eins: "Wir konzentrieren uns auf unsere konkrete Arbeit. Anderes lohnt sich nicht. Leben heißt anfangen. Und weitermachen."

Als der Verlag für ihr letztes Buch einen Titel vorschlug, in dem das Wort "Liebe" vorkam, war ihre Reaktion schnell: "Mit "Liebe" kann ich im Moment nichts anfangen. So wie ich mit allen erarbeiteten, geschenkten, ererbten, gefundenen, erkämpften Werten nichts mehr anfangen kann. Besser wäre: "Leben ist anders." Mitgedachter Untertitel: "und wir werden nicht gefragt."

Dabei war Liebe das zentrale Movens dieses Lebens. Ruth Pfau war eine große Gestalt des Christentums im 20. Jahrhundert. Eine intellektuelle Mystikerin, nüchtern und realistisch. Angesichts der Wirklichkeit durchlebte sie in ihrem Glauben auch alle Verzweiflung. Ihr letztes Buch "Leben ist anders" (Herder 2014/16) ist ein eindrucksvolles Zeugnis -ihrer Dunkelheiten, aber auch ihrer Tatkraft.

Sie wollte in Pakistan sterben, einem Land, das ihr zeitlebens fremd blieb und dessen Menschen sie doch so liebte. Bewundert hat sie, dass diese in all dem Chaos noch Feste feiern können. Als die Kranken sie zu ihrem Geburtstag mit Blumen überschütteten, schrieb sie: "Was von dem Blütenregen übrigblieb, haben wir in die Kapelle gegeben. Sie halten ihren Duft so lange!"

Der Autor war langjähriger Cheflektor des Herder-Verlages |

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