Irland in Selbstzweifeln

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Die Enthüllungen über missbrauchte Kinder haben das Selbstbild der Iren schwer erschüttert, schreibt die "Frankfurter Allgemeine".

Mitten in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Depression wird die irische Gesellschaft von einer beschämenden Vergangenheit eingeholt. Für die Nation, die über Jahrhunderte mit ihrer Opferrolle verwachsen war und ihren Aufschwung als Mitglied (und Subventionsempfänger) der Europäischen Union als Aufbruch ins gelobte Land empfand, ist eine Art Gerichtstag angebrochen: ein dramatischer Moment der Selbstvergewisserung. Nun, da in den Augen vieler Iren weder von diesem Aufbruch noch von dem Selbstbild des ewig Unterdrückten viel übrig geblieben zu sein scheint, entsteht Raum für Zweifel, Scham und Aggression.

Der 3000 Seiten starke Bericht der Kommission zur Untersuchung von Kindesmissbrauch in religiösen Erziehungsheimen hat das gesamte Land erschüttert. Das lag weniger am schieren Ausmaß der untersuchten Fälle (mehr als 1000, davon 500 Fälle sexuellen Missbrauchs), sondern eher an den dokumentierten Zuständen, in denen die Kultur der Misshandlung gedieh. Die in Viktorianischer Zeit gegründeten "Industrial Schools", eine Kombination aus Arbeitshaus und Erziehungsheim, waren in der irischen Republik bis in die siebziger Jahre verbreitet; fast alle wurden von katholischen Ordenskongregationen geführt, darunter viele von der Kongregation der "Christlichen Brüder". […]

"Eine Art Holocaust" sei die Kindesquälerei gewesen

Die Repräsentanten der Opfer greifen zu den schlimmsten Vergleichen, um das Ausmaß des erlittenen Leids zu illustrieren: "Eine Art Holocaust" sei die irische Art der Kindesquälerei gewesen. Das bleibt nicht unwidersprochen. Die selbstquälerische Debatte, die nun in Irland begonnen hat, richtet den Blick jedoch zunehmend über die unmittelbar verantwortlichen Täter hinaus aufs Grundsätzliche: War der irische Staat gegenüber der Kirche deshalb so duldsam, weil der Katholizismus für den nationalen Zusammenhalt gegenüber den britischen "Besatzern" und für die internationale Solidarität gleichermaßen grundlegend war? Weil die selbständige Republik Irland seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht ihre eigene Zukunft gewann, sondern stattdessen in ihrer Vergangenheit befangen blieb? […]

Dass die Schicksale missbrauchter Kinder jetzt solchen Eindruck auf die irische Gesellschaft machen, zeigt auch, wie sehr sich deren Selbstbild seit der Aufnahme in die EU gewandelt hat: Der Friedensschluss im Norden der Insel hat den Dauerkonflikt mit Großbritannien als identitätsstiftenden Quell zum Versiegen gebracht. Das irische Selbstbild war in den letzten Jahren stärker von der niedrigen Einkommensteuer-Rate bestimmt als von gälischer Folklore oder von anti-englischen Ressentiments. […]

Was den Iren trotz der doppelten Desillusionierung über Vergangenheit und Zukunft bleibt, ist ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl zu Europa - und damit auch ein sich besserndes Verhältnis zu ihrem verwandten Nachbarn Großbritannien. Der erste offizielle Staatsbesuch einer britischen Monarchin in der irischen Republik steht bevor; der Termin wird in den Augen vieler Iren eher einen Anfangspunkt denn einen Schlussstein markieren. Und ihre Verbundenheit mit der Europäischen Union werden die Iren im Herbst bei einer zweiten Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon dokumentieren. Im vergangenen Jahr, als sie nein zum EU-Reformvertrag sagten, da waren sie in ihrem Selbstwertgefühl auf einem Gipfelpunkt angekommen. Da wollten sie - auf einer stabil scheinenden materiellen Sicherheit ruhend - den anderen Europäern eine Lektion in demokratischer Lauterkeit erteilen. Beide Faktoren sind seither arg geschrumpft. Die irischen Demoskopen sagen, das Ja zu Lissabon werde dieses Mal sehr deutlich ausfallen.

* Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Juni 2009

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