Leerer Raum - © Istockphoto

Jemand fehlt: Tod und Trauer in der Literatur

19451960198020002020

Trauer und Verlust: Autorinnen und Autoren versuchen, davon zu erzählen.

19451960198020002020

Trauer und Verlust: Autorinnen und Autoren versuchen, davon zu erzählen.

Werbung
Werbung
Werbung

Das Lesen verschwinde zuerst, heißt es in Anne Tylers etwas leichtfüßigem Roman "Abschied für Anfänger" (Kein & Aber 2012). Die Mutter eines trauernden Witwers meint darin, "dass Lesen ein Luxus war, auf den das Hirn in harten Zeiten verzichtete. Sie behauptete, sie hätte nach dem Tod meines Vaters nie wieder irgendetwas Anspruchsvolleres als die Morgenzeitung in die Hand genommen." Diese Erfahrung haben wohl viele gemacht, denen ein geliebter Mensch verloren gegangen ist: Man will keine Romane mehr lesen.

Plötzlich ein Abgrund

"DIE ZEIT VERSCHWAND AN JENEM MORGEN. So still war es nie im Haus", heißt es in Wolfgang Hermanns leiser Erzählung "Abschied ohne Ende" (LangenMüller 2012), in der der Ich-Erzähler mit dem Tod seines 16-jährigen Sohns zurechtkommen muss. "Man ging altbekannte Wege, und plötzlich tat sich ein Abgrund auf, in dem alles verschwand", schreibt Anna Enquist und weiß, wovon sie schreibt, denn die Schriftstellerin hat 2001 ihre Tochter verloren. Die Erfahrung des Abgrundes teilt die ausgebildete Pianistin mit Bach - und in seinen "Goldberg-Variationen" findet die Protagonistin des Romans "Kontrapunkt" Spuren, selbst durch die scheinbar fröhlichen Stücke verläuft ein Riss.

Auch Romane sind nicht per se Trostbücher und Fluchthelfer, wenngleich es solche gibt. Doch vielleicht können gerade jene Texte (oder Figuren darin) zum Gesprächspartner werden, die keine konkreten Rezepte liefern. Der plötzliche Tod eines Kindes, der Verlust des Partners, mit dem man Jahrzehnte gelebt hat: Die Warum-Frage muss gestellt werden - und unbeantwortet bleiben. "Eine andere Antwort auf den schrecklichen Verlust, als über ihn zu schreiben, habe ich nicht", meint A. F. Th. van der Heijden, "um nach einer gewissen Zeit zu entdecken, daß auch Schreiben keine Antwort sein kann, denn es wurde keine Frage gestellt. Das macht den Verlust noch grauenerregender: daß er keine Frage enthält, sondern nur ein Ausrufezeichen wie ein messerscharfer Eiszapfen. / Man kann die Sache auch umdrehen und den Verlust befragen, doch auch von ihm kommt keine Antwort."

Van der Heijden gehört zu jenen Schriftstellern, die das Schicksal so hart getroffen hat, dass sie es zum Thema machen müssen. Sein einziger Sohn ist gestorben. Der Autor sucht daher auch Halt in den Werken jener Autorenkollegen zu finden, die selbst ein Kind verloren haben. Shakespeares Sohn Hamnet starb mit elf - hat es Auswirkungen auf Shakespeares Texte gehabt? "Anna Enquist verlor ihre Tochter Margit bei einem Verkehrsunfall auf dem Dam" - und "Kontrapunkt" ist eine Antwort darauf. Auch ihr Ende September erscheinender Roman "Die Betäubung" (Luchterhand 2012) wird sich mit der Frage auseinandersetzen, wie zwei Menschen mit Verlust umgehen.

"Ich habe aus dem Leid meiner Kollegen keinen Trost schöpfen können. Geteiltes Leid halbiert nichts. Es vermehrt", merkte van der Heijden zwar resigniert an, und doch schreibt er selbst. Denn: "Schreiben über Tonio oder gar nicht schreiben - das ist keine Frage der Wahl."

Kritische Selbstbefragung

Dass Schriftsteller derartige Schicksalsschläge nicht ignorieren können, indem sie einfach an ihren Werken weiterschreiben, sieht man bei der mehrfach vom Schicksal geschlagenen Autorin Joan Didion. Im Dezember 2003 starb plötzlich ihr Mann, sie schrieb über seinen Tod "Das Jahr magischen Denkens". Bevor das Buch erschien, starb ihre Adoptivtochter nach monatelangen Krankenhausaufenthalten. Nun gedenkt Didion in "Blaue Stunden" ihrer Tochter, in einer beinahe distanzierten, kritischen Selbstbefragung, in der die Fragen dominieren.

Dem Schreiben wohnt dabei eine verzweifelte Hoffnung inne: "Von dem Moment an, an dem es am Pfingstsonntag klingelte und ein Polizeibeamter die Worte 'kritischer Zustand' benutzte, war ich dabei, mein Requiem aufzuführen - erst beschwörend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn am Leben erhalten zu können, später am selben Tag ungläubig akzeptierend, in der verzweifelten Hoffnung, ihn mit Worten und Bildern in sein früheres Leben zurückzaubern zu können", legt van der Heijden Zeugnis ab.

Gemeinsame Themen

Sieht man sich internationale Literatur vergangener Jahre an, von Autorinnen und Autoren, die entweder den Tod ihres Kindes oder den ihres Partners bearbeiten, so fällt bei aller Unterschiedlichkeit der Form, in der sie das tun, die Gemeinsamkeit der Themen auf. Es sind jene Themen, die sich wohl auch in allen Aufzeichnungen von Menschen finden, die - ohne literarischen Anspruch, für sich, privat - schreibend versuchen mit jenem Abgrund umzugehen, den der Tod aufgerissen hat.

Da sind die Warum-Fragen, die nicht und nicht aufhören.

Da sind die Reservoire der Erinnerung im Krankenhaus, die Oates in "Meine Zeit der Trauer" (S. Fischer 2011) aufspürt: "Erinnerungen sammeln sich unter Stühlen in Wartebereichen neben der Intensivstation."

Da sind die Schuldgefühle - etwa jenes, geschlafen zu haben, als der Mann gestorben ist (Oates hat zudem ihren Mann ins Krankenhaus gebracht, wo er sich zur Lungenentzündung eine zusätzliche Infektion zugezogen hat, an der er gestorben ist).

Da sind neben rationalen und irrationalen Schuldgefühlen die vielen anderen Emotionen. Van der Heijden versucht einige von ihnen einzufangen: GEHETZTHEIT, NERVOSITÄT, SCHMERZ, AUFLEHNUNG, SCHAM, STOLZ, WUT, ERGEBENHEIT, ANGST, NIEDERLAGE.

Da ist die Schwierigkeit, gemeinsam - als kinderlos gewordene Eltern - oder alleine, etwa als Witwe, mit dem neuen, nun so leeren Alltag fertig zu werden. Letzteres ein Thema, dem Stewart O'Nan in seinem neuen Roman "Emily, allein" (Rowohlt 2012) locker nachgeht. Oates hingegen zeigt reflektierend das Ringen der Intellektuellen auf dem Weg dahin: "Der feste Wille es zu schaffen, zu bewältigen, so viel wie möglich ohne fremde Hilfe zu tun, ist das Vorrecht der Witwe. Sie könnten einwenden, das sei ein Zeichen für ihren Wunsch, eigenständig zu erscheinen, was nicht dasselbe ist wie eigenständig sein. Oder Sie könnten einwenden, das sei ein Symptom ihrer Störung. / Was aber ist in den ersten Minuten/Stunden/Tagen der Witwenschaft bei genauer Betrachtung, kein Symptom einer Störung?", fragt Oates, die auch die erste Aufgabe als Witwe benennt: "Ich habe die Aufgabe, es ist meine erste als Witwe, die Sachen meines Mannes aus dem Krankenzimmer zu entfernen."

Da ist die Notwendigkeit, Freunde zu haben, aber da schwirren auch jene Floskeln herum, mit denen Menschen die Trauernden zu trösten und zu vertrösten suchen.

Da tauchen Jugendliche auf, die den Eltern die letzten Stunden ihres Kindes erzählen.

Da ist das Thema des Abschieds, das für Eltern mit der Geburt des Kindes beginnt.

Da suchen die Eltern den Ort auf, wo ihr Kind verunglückt ist.

Da erscheinen einem die Toten.

Da stellen sich Fragen wie: Was habe ich versäumt? Habe ich den Verstorbenen wirklich gekannt? Und: Wird er oder sie aus dem Gedächtnis verschwinden? Auch dagegen schreiben Schriftsteller an. Ihr Schreiben ist dann mehr denn je ein Anschreiben gegen den Tod, gegen die Zeit: "Sein Name ist Zeit. Er wird sie von dem wegführen, was ihr lieb ist, er wird sie an Orte bringen, wo sie nicht sein möchte", schreibt Enquist. "Die Zeit vergeht. Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe?", fragt Didion.

Da ist die grenzenlose Verzweiflung und der lange Weg zum Begreifen, dass es wirklich ist, unumstößlich, kein Albtraum, aus dem man aufwachen kann: Jemand fehlt.

Hilfe durch Struktur

Ob nun betroffene Schriftsteller ihre Beziehungsgeschichte autobiografisch erzählen und dabei auch konkrete Namen nennen oder ob sie sie fiktionalisieren wie Anna Enquist - die Frage bleibt, wie man Trauer jenseits der Klischees erzählen kann, kunstvoll und dennoch nicht künstlich. Wo doch angesichts der Trauer, wie van der Heijden anmerkt, das Pathos stimmt?

Anna Enquist arbeitet in "Kontrapunkt" die Verlustgeschichte ihrer Protagonistin (die ihre eigene ist) anhand der Komposition der Goldberg-Variationen durch. Ihr Buch führt faszinierend in die Welt der Bach'schen Musik ein und macht Lust, diverse Interpretationen der Goldberg-Variationen wieder zu hören. Die Aria, die nach all den Variationen gespielt wird, ist nicht mehr dieselbe, auch wenn sie dieselbe ist. Das gilt auch für jene Aria, die diese Mutter am Ende für ihre tote Tochter spielt.

Musik erscheint hier als Versuch zu strukturieren, wo keine Struktur ist: Eine Struktur hilft zu leben. Auch Erzähler strukturieren, mit Sprache: Mittels des Erzählens, des Aufschreiben des Lebens versucht man Ordnung zu bringen ins Chaos der Erinnerungen und Gefühle.

Nicht zufällig taucht als Folie oft der Mythos auf oder andere Erzählungen. Wenn -um nun zwei nicht autobiografische Beispiele zu nennen -Chris Adrian in "Die große Nacht"(Rowohlt 2012) den Sommernachtstraum einwebt und Feen, so hebt er die Erfahrung von Eltern, neben ihrem krebskranken Kind zu sitzen, in ein Zwischenreich. Als Arzt in einer Kinderkrebsklinik weiß er, was er damit erzählt.

Und wenn Anne Weber in ihrem neuen Roman "Tal der Herrlichkeiten"(S. Fischer 2012) den griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike wiederbelebt, so bedient sie sich eines alten Erzählmusters, das Antwort auf die immergleiche Sehnsucht versucht: die Verschwundenen aufzuspüren, ihr Leben wieder zu holen.

Erzählen, um zu leben

"Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben", hatte Didion bereits 1979 geschrieben - und in einigen Texten, unter anderem in ihrem, wird spürbar, wie existenziell dieser Satz zu verstehen ist. Da erkennt man das Schreiben als Anschreiben gegen die Versuchungen, das eigene Leben zu beenden. Auch Oates weist darauf hin, im letzten Kapitel von "Meine Zeit der Trauer", das nur aus einem Satz und einem Foto besteht, unter dem Titel "Das Handbuch der Witwe":"Von den zahllosen Pflichten, die die Witwe dem Tod gegenüber hat, ist im Grund nur eine von Belang: am ersten Todestag ihres Mannes sollte die Witwe denken: Ich lebe noch."

Nein, Vertröstungen bieten van der Heijden, Didion, Oates, Hermann und Enquist nicht. Wer so etwas sucht, ist mit Coelho besser bedient. Statt dessen benennen ihre Werke den Abgrund als Abgrund und sie beschönigen nicht, wo es nichts zu beschönigen gibt, denn, so van der Heijden: "Verlust ist ein Würger."

Blaue Stunden
Von Joan Didion
Aus dem Amerikan. von Antje Rávic Strubel
Ullstein 2012
207 S., geb., € 18,50

Meine Zeit der Trauer
Von Joyce Carol Oates
Aus dem Amerikan. von Silvia Morawetz
S. Fischer 2011
494 S., geb., € 25,70

Abschied ohne Ende
Von Wolfgang Hermann
LangenMüller 2012
102 S., geb., € 15,50

Tonio. Ein Requiemroman
Von A.F.Th. van der Heijden
A. d. Niederl. v. Helga van Beuningen
Suhrkamp 2011
671 S., geb., € 27,70

Die große Nacht
Roman von Chris Adrian
Aus dem Engl. von Thomas Piltz
Rowohlt 2012
443 S., kart., € 15,40

Kontrapunkt
Roman von Anna Enquist
Aus dem Niederländ. von Hanni Ehlers
btb 2011
215 S., kart., € 10,30

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung