Kämpferin gegen unerhörte Diskriminierung

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Störende Zwischenrufe werden an Gewicht verlieren, aber auch sonst dürfte das neue Gesicht im Nationalrat - die neue grüne Angeordnete Helene Jarmer - die Gewohnheiten der Parlamentarier ganz schön durcheinanderwirbeln. Denn mit Jarmer zieht die erste gehörlose Abgeordnete in den Nationalrat ein.

Die 37-jährige Wienerin wird noch vor der parlamentarischen Sommerpause das Mandat der neuen EU-Abgeordneten Ulricke Lunacek übernehmen. Jarmer fungiert bereits als Behindertensprecherin. Ihr zur Seite gestellt werden zwei Gebärdendolmetscher, die bei persönlichen Gesprächen und Reden übersetzen.

"Wie Pilot ohne Flugschein"

Und reden will die Politikerin einiges: Denn um die Bildungschancen gehörloser Kinder stehe es schlecht. Gehörlose Kinder würden "um ihre Bildung betrogen", kritisiert Jarmer in einem APA-Interview. Sie selbst habe um ihre Bildung kämpfen müssen. Zwar ist die Gebärdensprache seit 2005 in der Verfassung verankert, Unterrichtssprache ist sie deshalb noch lange nicht. Gehörlose müssten ein Recht auf Sprache, bilingualen Unterricht und entsprechend ausgebildetes Lehrpersonal haben. Jarmer verweist auf Vorbilder wie skandinavische Staaten oder die USA. In Österreich hingegen müssten Lehrer, die gehörlose Kinder unterrichten, nicht einmal die Gebärdensprache beherrschen, beklagt Jarmer, die seit 2001 auch Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und seit 2003 Lehrbeauftragte an der Universität Wien für Gehörlosenpädagogik ist. "Das ist, als würde ein Pilot ohne Pilotenschein fliegen."

Jarmer wurde 1971 in Wien-Leopoldstadt geboren, ihre Eltern - die Mutter Modezeichnerin, der Vater Bildhauer - sind ebenfalls gehörlos. Jarmer selbst wurde zwar mit Gehörfähigkeit geboren, verlor aber mit zwei Jahren nach einem Unfall ihr Gehör. Ohne die Förderung ihrer Eltern hätte sie es nicht so weit gebracht, erzählt sie gegenüber der APA. Lehrer hätten sie hingegen immer wieder entmutigt. Die grüne Politikerin war eine der ersten gehörlosen Studentinnen Österreichs. Laut Jarmer studieren hierzulande an die 30 gehörlose Studenten und Studentinnen, in Schweden sind es über 1000. Neben der Bildungsoffensive will Jarmer vor allem auch für die alltäglichen Benachteiligungen Gehörloser und aller Menschen mit Behinderungen sensibilisieren, wie sie bei Medienauftritten versichert. "Diskriminierung ist Teil meines Lebens." Behinderungen im Alltag sind allgegenwärtig: So wurde sie von einer Versicherung nach ihrer Telefonnummer gefragt und musste lange erklären, dass sie kein Telefon hat, weil sie es eben nicht benutzen kann.

Wie viel Behinderungen es bei der parlamentarischen Arbeit geben wird, wird sich zeigen. Wie viel Bewegung sie in Fragen der Gleichstellung behinderter Menschen bringen kann, muss sie nun zeigen. Doch dass eine gehörlose Politikerin das Parlament, die politische Szene und vielleicht sogar das Land und seine oft nur schwer veränderbaren Gewohnheiten ein wenig aufrütteln wird, das scheint gut möglich und lässt hoffen für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen.

Jarmers Amt als Behindertensprecherin ist aber nicht ohne Schatten. Ihre Vorgängerin, Theresia Haidlmayr, schied nach deren Darstellung "unfreiwillig" aus dem Amt. Haidlmayr war zusammen mit VP-Kollegen Franz-Joseph Huainigg die erste rollstuhlfahrende Abgeordnete im Parlament.

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