Kampf gegen die Qualen der Beschneidung

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Als 13jährige soll sie mit einem alten Mann verheiratet werden. Doch Waris Dirie flüchtet aus der Wüste Somalias und strandet in Europa. In London macht sie Karriere als Fotomodell. Heute engagiert sie sich als UNO-Sonderbotschafterin gegen die Beschneidung, die rituelle Verstümmelung weiblicher Genitalien.

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Als 13jährige soll sie mit einem alten Mann verheiratet werden. Doch Waris Dirie flüchtet aus der Wüste Somalias und strandet in Europa. In London macht sie Karriere als Fotomodell. Heute engagiert sie sich als UNO-Sonderbotschafterin gegen die Beschneidung, die rituelle Verstümmelung weiblicher Genitalien.

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Ihre Mutter hat sie "nach einem Naturwunder benannt, denn Waris bedeutet Wüstenblume. Die Wüstenblume wächst in einer kargen Umgebung, wo sonst kaum etwas gedeihen kann. In meinem Land fällt oft länger als ein Jahr kein Regen. Aber irgendwann setzt er ein, er reinigt die staubige Landschaft, und dann erblühen wie durch ein Wunder diese Blumen. Ihre Blüten sind von einem leuchtenden Gelborange, und aus diesem Grund war Gelb schon immer meine Lieblingsfarbe."

Waris Dirie, eines der begehrtesten Models der Welt, hat mit "Wüstenblume" die Geschichte ihres Lebens geschrieben. Heute beschreitet sie mit Glitter und Glamour die Laufstege der westlichen Modehauptstädte und reist zu Fototerminen um die halbe Welt, als Kind legte sie Tausende von Meilen durch die Wüste Somalias zurück, barfuß und nur in einen Schal gewickelt. Waris Dirie entstammt einer Nomadenfamilie, war eines von zwölf Kindern (Kinder sind die Altersversorgung), von denen nur sechs erwachsen wurden. Sie hat die Härte des Lebens kennengelernt, den Kampf ums Überleben, der nur gelingen kann, wenn alle zusammenhalten, und sie hat sich damit die Fähigkeit erworben, die einfachen Dinge zu schätzen, das wertvollste Gut in ihrer Kindheit war Wasser, Urquell des Lebens.

Aber sie hat auch die gedankenlose Grausamkeit einer patriarchalischen Gesellschaft kennengelernt, wo die Ehen von den Vätern beschlossen und die Genitalien der Töchter verstümmelt werden, um sie zu "anständigen Frauen" zu machen. Eine unbeschnittene Frau gilt als unrein und mannstoll und hätte auf dem Heiratsmarkt keine Chance.

Die weibliche Beschneidung hat ihren fixen Platz in der Gesellschaft von 28 afrikanischen Ländern und wird selbst von den meisten Betroffenen unreflektiert als Notwendigkeit hingenommen, als Teil der Bürde, eine Frau zu sein.

Ohne Betäubung Ahnungslos und ohne Vorstellung von den Qualen, die auf sie zukommen, können die kleinen Mädchen den Tag oft kaum erwarten, an dem "es" mit ihnen gemacht wird, dann dürfen sie sich nämlich als Erwachsene fühlen. Die Beschneidung nehmen Hebammen vor oder "Zigeunerinnen", die durch die Wüste ziehen und mit diesen Ritualen ansehenliche Summen verdienen. Ohne Betäubung werden den Mädchen mit Rasierklingen, Glasscherben, scharfen Steinkanten oder auch den Zähnen je nach Kultur entweder "nur" die Klitoris oder auch innere und äußere Schamlippen entfernt. Anschließend werden die Reste der Genitalien so zugenäht, daß nur ein winziges Loch für Urin und Menstruationsblut bleibt. Viele sterben schon am Eingriff selbst, andere an den Komplikationen einer späteren Geburt, die Frauen haben ihr Leben lang mit chronischer Blasenentzündung, Dysmenorrhö und anderen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.

Waris Dirie hat diese Tortur als fünfjähriges Mädchen am eigenen Leib erlebt. Als 13jährige wollte sie ihr Vater mit einem alten Mann verheiraten. Weinen und weigern nützte nichts, der Tausch gegen fünf Kamele war bereits vereinbart. Aber Waris war keine Duldernatur und nahm ihr Leben selbst in die Hand. Zu Fuß flüchtete sie allein durch die Wüste und gelangte schließlich nach Mogadischu, wo sie bei Verwandten ihrer in der Stadt aufgewachsenen Mutter unterkam.

Einer ihrer Onkel war im diplomatischen Dienst tätig und nahm sie als Dienstmädchen mit nach London. Dort lernte sie trotz etlicher Hindernisse allmählich Englisch sowie Lesen und Schreiben und sog neugierig und wissensdurstig auf, was die Umgebung ihr Neues zu bieten hatte.

Pointiert und humorvoll erzählt sie von ihrer Kindheit, ihrer Flucht, ihrem Sozialisationsprozeß in der westlichen Welt, der Entdeckung als Fotomodell, den Problemen mit der Einwanderungsbehörde und schließlich ihrer Karriere in New York. Der Beruf macht ihr Spaß, doch nimmt sie gewisse Kategorien der "Zivilisation" wie Ehrgeiz, Berühmtheit oder Reichtum einfach nicht ernst. Denn als Kind hatte sie erfahren, "daß Glücklichsein nicht an Besitz gebunden ist, weil ich nie etwas besaß, aber dennoch sehr glücklich war."

Denn: "Abgesehen von meiner Beschneidung würde ich mit niemandem auf der Welt meine Kindheit tauschen wollen ... Ich kenne keine einzige Familie, die so zusammenlebt wie wir es taten, die gemeinsam singt, sich freut und lacht ... Ich weiß noch, wie wir an manchen Abenden um das Feuer saßen und über jede Kleinigkeit lachen konnten. Und wenn der Regen kam und das Leben neu geboren wurde, feierten wir das als Fest."

Als UNO-Sonderbotschafterin engagiert sie sich heute gegen die rituelle Verstümmelung weiblicher Genitalien und ist davon überzeugt, daß diese grausame Tradition vor allem aus Unwissenheit und mangelndem Einfühlungsvermögen vieler afrikanischer Männer fortgeführt wird. 130 Millionen Frauen sind davon betroffen, täglich werden etwa 6.000 kleine Mädchen verstümmelt, viele von ihnen sterben an den Folgen.

Mit "Wüstenblume"- jetzt auch als Taschenbuch erschienen - versucht Waris Dirie einerseits, die Öffentlichkeit auf das Leid dieser Frauen und Mädchen aufmerksam zu machen und andere Mädchen davor zu bewahren. Andererseits versucht sie, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Sie gibt uns nicht nur Einblick in das somalische Nomadenleben, sondern zeigt auch unseren eigenen Kulturkreis aus manchmal ungewohnter Perspektive und stellt die Frage nach den wirklich wesentlichen Dingen des Lebens.

*) UNO-Sonderfonds gegen die Genitalverstümmelung von Frauen (FGM): The Campaign to Eliminate FGM. UNFPA (United Nations Population Fund) 220 E. 42nd Street, New York, NY 10017, E-Mail: hq@unfpa.org BUCHTIP Wüstenblume. Von Waris Dirie. Ullstein Verlag, Berlin 1999. 280 Seiten, Tb, öS 131,- /e 9,52

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