Kann Kunst noch schocken? s

19451960198020002020

Schockiert eine Installation,in der der Papst von einemMeteor getroffen zusammensinkt? "Apocalypse: Schönheit und Schrecken in der zeitgenössischen Kunst" heißt eine Ausstellung in der Royal Academy of Art in London,die die Betrachter aus der Fassung bringen will.

19451960198020002020

Schockiert eine Installation,in der der Papst von einemMeteor getroffen zusammensinkt? "Apocalypse: Schönheit und Schrecken in der zeitgenössischen Kunst" heißt eine Ausstellung in der Royal Academy of Art in London,die die Betrachter aus der Fassung bringen will.

Werbung
Werbung
Werbung

Keine Schocks mehr, bitte, wir sind britisch", wendet sich der Kommentator von The Times an die Londoner Kunstszene, oder, konkreter, an die Kuratoren der Royal Academy. Nicht, dass die ihn gerade schockiert hätten. Ganz im Gegenteil. Versprochen hatten sie es zwar. Und im Katalog zur jüngsten Ausstellung "Apocalypse: Beauty and Horror in Contemporary Art (Schönheit und Schrecken in der zeitgenössischen Kunst) ist nachzulesen, wie "die Idee einer Apokalypse an sich schon schockiert". "Apokalypse bedeutet, sich der Geschichte und der Gegenwart zu stellen. Sie birgt in sich das Gefühl der Endgültigkeit, der Kulmination und des unvorstellbaren Horrors, der nur allzu oft Wirklichkeit geworden ist in der lebendigen Erinnerung." So weit die Theorie.

Und der Anspruch der Ausstellung. Aber die Realität? Schockiert eine Installation, in der der Papst, von einem Meteor getroffen, zusammen sinkt? Oder eine andere mit dem Titel "Hölle", in der Jake und Dinos Chapman mit tausenden kleinen verstümmelten, blutüberströmten und gemarterten Figuren die Schrecken der jüngeren Geschichte veranschaulichen? Oder Müll als Hauptingredienz einer Skulptur?

Ganz entschieden nein, urteilt The Times, uns nicht, dagegen sind wir, nach allem, was wir schon gesehen -haben, bestens gewappnet. Viel eher werden wir hinschauen, das Dargebotene zur Kenntnis nehmen und - "gähnen". Mag sein, dass es der Kommentator wirklich tut. Mag sein, dass für einige Stammkonsumenten der hiesigen Kulturszene nach all dem Getue um die YBA's, die Young British Artists, der Sättigungsgrad in Sachen Schock längst erreicht ist.

Mit Amüsement verfolgten die jedenfalls im Vorjahr die Aufregung des New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani wegen eines Werkes in "Sensation: Junge britische Künstler aus der Saatchi-Sammlung", bei dem Tiermist einem Gemälde der Jungfrau Maria beigefügt war. Arme britische Kunstwelt, kann da der Guardian nur sinnieren. Denn da draußen, in der Wirklichkeit, außerhalb der Mauern der Royal Academy und anderer von Kunst erfüllter hehrer Loci, da sind die Briten weiterhin bestens aus der Fassung zu bringen. Wer vermeint da, cool zu sein? Wer behauptet da lässig, alles schon dagewesen?

Wenn Cherie Booth, Gattin des britischen Premiers und kürzlich zum vierten Mal Mutter geworden, bei einem hochkarätig besetzten Diner plötzlich ihre Bluse öffnet und Klein-Leo an die Brust legt, wie jüngst geschehen, dann weitet sich tatsächlich so manches Auge vor Schrecken. Im privaten Kreis, unter Freunden kann sie das ja tun. Aber doch nicht vor erlauchten Gästen!

Die Frau von Premier Tony Blair!! "Apokalypse", reflektiert The Guardian, "ist das moderne Pendant zur Freakshow im Zirkus ... Wenn wir wirklich schockiert werden wollen, dann sind die guten alten Lieblingsthemen Sex, Geld und der Verstoß gegen gesellschaftliche Konventionen unübertreffbar." Wann und vor allem in wessen Gegenwart Leo Blair gestillt werden darf, das ist ein Thema, das wirklich nahe geht und die Gemüter erhitzt, da mag ein Künstler sich noch so verausgaben, um uns mit seinem Werk "aus den Socken zu heben".

Auch am Beginn des 21. Jahrhundert, raisonnieren einige professionelle Denker, die anlässlich von Apokalypse über die Reizüberflutung unserer Gesellschaft sinnieren, sind wir Durchschnittsbürger und -bürgerinnen keineswegs immunisiert gegen Schocks. Dinge und Ereignisse müssen uns nur nahe genug kommen. Kunstwerke auszustellen und ihnen von vornherein eine klar umrissene Bedeutung und Wirkung zuzuschreiben, genügt eben nicht.

Ein gezielter Blick Jim Shaw, in Los Angeles ansässiger Künstler und Kurator, lehnt schon die Idee, dass jemand uns nahelegen will, was ein Werk zu bedeuten habe oder was gute und was schlechte Kunst ist, als pure Anmaßung ab. Ihn fasziniert seit 25 Jahren das, was zunächst keinen Eingang findet in Museen oder selbst die kleinsten Galerien, vermutlich auch gar nie dafür bestimmt war, kurz Kunstschaffen im weitesten Sinn, dem, was in der Hand der Durchschnittsbürger und -bürgerinnen daraus wird. "Für mich", sagt Shaw, "gibt es die Geschichte (der Kunst und Gesellschaft), die uns erzählt wurde, und dann gibt es die Geschichte, die sich tatsächlich ereignet hat. Für mich sind die Thrift Store Paintings ein wenig näher an der Geschichte, die tatsächlich stattgefunden hat."

Thrift Store Paintings - "Gemälde von Billigläden", also Werke völlig unbekannter Personen, die Shaw auf Flohmärkten, bei Tandlern und in Second-Hand-Shops zunächst einfach entdeckt, dann immer gezielter gesucht und gesammelt und nun im Londoner Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) ausgestellt hat. Shaw versteht sie als eine "laufende Erzählung über Amerika", man könnte sie, meint er, mit einer Sammlung von Volksmusik gleichsetzen. Selbstverständlich finden die Berufenen auch hier einige Worte der Rationalisierung. Elegant und in den Worten von Matthew Higgs, einem Kurator am ICA, ausgedrückt, lautet das dann: Viele Menschen haben, "wie Velasquez, den Wunsch, die Welt in ein Viereck zu fassen. Velasquez hat nur die Kluft zwischen Absicht und Ausführung besser überbrückt." Also wird, so wie von allen weltweit verfassten Manuskripten weit weniger als ein Prozent je publiziert werden, auch von allen Malereien nur ein winziger Bruchteil je der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die Autoren und Autorinnen der Thrift Store Paintings sind uns nicht bekannt. Auch nicht die Absichten, mit denen sie zu Pinsel und Farben gegriffen haben. In Ermangelung eines jeden Kontexts bleibt damit auch den professionellen Kunstbetrachtern nur die Annäherung über die Beschreibung des Dargestellten. Das hat Shaw natürlich kuratiert. Er hat es schon mit einem Blick für gewisse Dinge gesammelt ( zunächst nur für sich ohne den Gedanken, dass er es je ausstellen würde, der ist anderen gekommen, die damit dann an ihn herantraten) - es ist das Psychodelische, Psychotische, Surreale, das ihn besonders fasziniert, "der seltsame Beigeschmack, den der amerikanische Puritanismus da bekommt". Was etwa ist vorgegangen in der Person, die einen Riesenpenis vor einem grellen Sonnenuntergang gemalt hat? Wir werden es nie wissen. Aber warum sollen uns diese Nicht-Velasquez interessieren? AAAAAARGH! greift ein Kritiker auf Cartoon-Vokabular zurück bei dem Gedanken an "die Millionen Geschichten da draußen in der Stadt", ja , sie passieren, aber was gehen sie uns an? Am Ende gibt er zu, dass die Zeit, die er bei den Thrift Store Paintings verbracht hat, nur so verflogen ist. Bevor er sich's versah, waren Stunden um. Und: Die Malereien "sind faszinierend, alarmierend, sorgenvoll und lustig. Auch erschreckend, genau wie Amerika."

Eine Annäherung. "Müllsammler" nannte ein anderer Jim Shaw. Auch eine Annäherung. Shaw selbst versucht erst gar nicht, eine Erklärung zu basteln. "Da (den ausgestellten Werken) kein erklärender Text beigefügt ist, kann sich jeder für sich seine Gedanken machen."

Über Kunst, Gesellschaft und ihren Umgang mit Kunst, über Beachtetes und Nichtbeachtetes, über Bilder, die uns prägen, über Amerika, über ... ja, warum nicht auch die Apokalypse, wenn jemand den Drang verspürt.

Jim Shaw: Thrift Store Paintings, ICA bis 5. November Apocalypse, Royal Academy of Art, bis 15. Dezember.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung