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Mehr Gelassenheit zu erreichen, wäre schön, aber wie geht das? Die Basis dafür ist ein gutes Verhältnis zu sich selbst, nennen wir es Selbstfreundschaft. Und wie kommt ein Mensch dazu, mit sich selbst befreundet zu sein? Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbstfreundschaft besteht darin, sich Gutes zu tun und genießen zu lernen. Menschen, die genießen können, sind eher mit sich im Reinen. Und wer sich vorbehaltlos auf die Genüsse einlässt, die das Leben bietet, hat mehr vom Leben. Genussmomente rüsten Menschen auch bestens dafür, Herausforderungen zu bestehen, die selbst bei einem genussreichen Leben nicht ausbleiben.

Nicht ständig muss ein Mensch genießen, nicht unentwegt "gut drauf sein". Genießen ist wunderbar, aber es ist nicht ständig möglich. Ihm bereitwillig Pausen zu gewähren, bereitet den Boden für künftige Genüsse. Die Pausen zu verweigern, führt zur Suche nach stärkeren Reizen, deren Genuss dennoch bald schal ausfällt. Das Problem ist, dass das von Ratgebern und Medien propagierte Genießen keine Pausen mehr vorsieht. So sind viele dem Druck ausgesetzt, sich ohne Unterlass mit der Frage nach dem nächsten Genuss zu martern. Sie können keinen Augenblick mehr genießen, ohne vom Gedanken besessen zu sein, unbedingt genießen zu müssen. Ein erfülltes Leben besteht aber darin, auch genussfreie Zeiten gut zu bewältigen. Selbst die schönsten "Schaumkronenerlebnisse" können unschöne Erfahrungen nicht ausschließen. Umgekehrt ist es wichtig, bei unschönen Erfahrungen das Schöne wieder zu suchen, das viel Kraft verleiht.

Sinnliche Fülle und Lebenssinn

Die Kunst, das Leben zu genießen, hat sehr viel mit einer Stärkung der Sinnlichkeit zu tun. Die Instrumente dafür hält der Körper bereit, vorausgesetzt, ich kümmere mich um seine Lustfähigkeit, Gesundheit und Haltbarkeit. Der Körper ist die Basis des Lebens: Daher will ich ihn pflegen und mich der Lüste erfreuen, die er mir gewährt. Kein Körperkult steht dabei in Frage, sondern eine maßvolle Körperkultur. Vor allem die Sinne sind dafür von Interesse, diese Öffnungen und Sensoren des Körpers, durch die die Welt mal mehr, mal weniger lustvoll einströmt. Genuss hat bei Weitem nicht nur mit Sinnlichkeit zu tun. Aber die sinnliche Fülle trägt bereits ihren Teil zur Sinnerfülltheit des Lebens bei.

Steigerung der Sinne

Übungen zur besseren Nutzung der Sinne dienen dazu, dieses Potenzial zu heben und die Genussfähigkeit zu steigern. Übung, das ist Askese, dem alten griechischen Ausdruck "Askesis" entsprechend. Übung besteht im wiederholten Vollzug einer Verhaltensweise, um Fähigkeiten zu verbessern und Abläufe zur Gewohnheit zu machen. Im Sport ist die Bedeutung von Übungen bestens bekannt; sie haben mit so etwas wie Enthaltsamkeit zunächst gar nichts zu tun, obwohl eine solche gelegentlich ratsam sein könnte. Dem Sinn des Sehens etwa tut es gut, sich des Blicks auf Bildschirme immer wieder zu enthalten und stattdessen sich darin zu üben, in den Gesichtern von Menschen zu lesen, die Fassaden von Häusern zu studieren oder den unentwegt sich verändernden Wolkenzug am Himmel zu bewundern -ein altes romantisches Projekt, das als "Cloudspotting" erneut an Reiz gewinnt.

Am leichtesten fällt es, den Sinn des Hörens mit Übungen zu stimulieren. Von allen Seiten dringen Geräusche, Töne, Stimmen, manchmal Stille und, ja, auch Krach ans Ohr: Die Welt und alles, was in ihr ist, spricht auf diese Weise. Es bedarf lediglich einer Entscheidung für die Übung, hier und da genauer hinzuhören. Und wer nannte den Geruchssinn unnütz? Leider Aristoteles. Kleiner Irrtum eines großen Geistes. Nützlich sind Gerüche etwa als Andockstellen für Erinnerungen, die einen Menschen lebenslang begleiten und mit ihrer Beständigkeit Lebenssinn begründen.

Den Sinn des Schmeckens übt, wer isst und trinkt - aber es ist nicht egal, worum es sich dabei handelt: Manche lieben den Geschmack von Kaviar oder auch nur den Luxus, ihn sich leisten zu können, aber Fragen stellen sich: Wo kommt der her? Unter welchen Bedingungen wird er gewonnen? Muss ich den unbedingt haben oder kann ich Askese üben, hier im Sinne des Verzichts? Zum Beispiel, weil es sich wohl eher nicht um einen fairen, also sozial und ökologisch verträglichen Genuss handeln kann. Es gibt ja jede Menge alternative Genüsse: Kein Mensch braucht Kaviar, um das Leben genießen zu können. Mein Kaviar heißt Kaffee, am liebsten in Form eines Espresso, für dessen Herkunft und faire Herstellung ich mich detailliert interessiere. Er hat auch Auswirkungen auf den Körper; daher kommt es vor, dass mir der Hausarzt nahelegt, eine Weile darauf zu verzichten. Es fällt mir schwer, aber ich mache das, eine gute Übung. Auf eine Weile der Askese folgt dann, mit noch mehr Genuss als zuvor, wieder Kaffee.

Ich berühre, also bin ich

Das ist der große Vorteil jeder Askese: Sie steigert den Genuss. Einerseits im Wortsinn der Askese, weil das stetige Üben des Genießens das Genießenkönnen steigert. Andererseits, weil schon die Übung der Zurückhaltung, erst recht der zeitweiligen Enthaltung, die Abstumpfung durch Gewohnheit reduziert und die Empfindsamkeit für den Genuss steigert. Manchmal kann es sogar um die Fähigkeit zum dauerhaften Verzicht gehen -etwa dann, wenn Genüsse das eigene Selbst oder Andere gefährden würden, beispielsweise beim Rauchen.

Eine großartige Sinnlichkeit ermöglicht die Übung des Tastsinns, dessen Sensoren über die gesamte Hautoberfläche verteilt sind. Vor allem die Berührungen mit Anderen bestärken die Vertrautheit miteinander und das Gefühl der Existenz. Ich berühre, also bin ich: Damit es an Berührung nicht mangelt, haben Gott oder die Natur sie mit so großer Verführungskraft ausgestattet, dass sie zum bevorzugten Medium der Erotik geworden ist. Umso bedauerlicher, dass Menschen es dennoch an ihr fehlen lassen.

Genüsse sind vor allem durch Gemeinsamkeit zu steigern. Das Privileg der Freundschaft sind die vielen großartigen Stunden, die Freunde miteinander verbringen und deren Wohlfühlglück sie ausmachen. Freundesfreuden und die entsprechenden Freundesübungen bestehen darin, miteinander Musik zu hören, etwas zu trinken (auch Trinkgelage zu feiern), gemeinsam zu essen, Ausflüge und Reisen zu unternehmen oder lange Gespräche zu führen. In der Erinnerung können die schönen Erfahrungen lange nachklingen, viele davon ein ganzes Leben lang. Der höchste Lebensgenuss ist die Liebe, verbunden mit gemeinsamen sinnlichen Erfahrungen - so sehr, dass es kaum vorstellbar ist, dass ein Leben ohne den Anderen noch ein sinnvolles, genussreiches Leben sein könnte. Den Liebesfreuden dienen gemeinsame Liebesübungen, Gespräche, Ausflüge oder erotische Spiele. Die Liebe gewährt die Möglichkeit, pansensuelle Erfahrungen zu machen. Alle Sinne können dabei zur vollen Entfaltung mit außerordentlichen Genüssen kommen. Und nicht nur die Sinnlichkeit wird hellwach, sondern auch Gefühlsgenüsse und Gedankenreichtum machen die Energie des Lebens intensiv erfahrbar. Diese Energie ist für die Erfahrung von Sinn ausschlaggebend, denn in ihr spüren Menschen das Wesentliche, das sie leben und aufleben lässt, und zugleich etwas, das sie unendlich überschreitet. Insofern birgt die Liebe auch transzendente Erfahrungen in sich. Es gibt keinen kürzeren Weg zum Sinn des Lebens.

Asketische Fähigkeiten gefragt

Was aber heute schmeckt, ist morgen reizlos. In wohldosierter Form bringt der Genuss eine willkommene Abwechslung in den Alltag. Wer zur Dosierung nicht in der Lage ist, läuft Gefahr, dass aus Genuss Überdruss wird. Den eigentlichen Genuss macht ohnehin nicht die Quantität, sondern die Qualität, sei es beim Sex, Wein, Kaffee oder bei Schokolade. Wird die Dosierung nicht beachtet, kann aus Genuss Sucht werden, die letztlich zerstörerisch wirkt. Und was, wenn es an Genussgelegenheiten fehlt? Asketische Fähigkeiten machen es leichter, Auszeiten eines Genusses gut zu überstehen. Was "Sublimation" genannt wird, ist der Verzicht auf Körperlichkeit, um alle Energien auf andere Projekte, Arbeiten und Aufgaben zu lenken. Das ermöglicht den Genuss des Versinkens in einer Tätigkeit, der vertieften Lektüre oder des intensiven Gesprächs. Der Genuss von geistigem Kaviar ist weitgehend unbedenklich. Eine Zurückhaltung ist hier kaum nötig: Alle Askese kann der Steigerung und Verfeinerung des Genusses gewidmet werden.

Bei allen Genüssen kann freilich das Grundgesetz der Polarität des Lebens nicht ausgehebelt werden. Der Genuss eines Hobbys oder Sports ist besonders entspannend, wenn er als Ausgleich zu einer Anspannung erlebt wird. Der Genuss von Sex ist umwerfend, wenn er auf die Erfahrung eines "Sex-out" folgt. Der Genuss eines Spiels wird am stärksten empfunden als Kontrast zum Ernst des Lebens. Der Genuss der Freiheit kommt zu Bewusstsein, wenn Unfreiheit erfahren wird. Vermutlich lassen sich deshalb viele Menschen scheiden: Um ihre Freiheit wieder genießen zu können, die sie als eingeschränkt erlebt haben und jetzt viel mehr wertschätzen als in einer anderen Lebensphase, in der die Freiheit normal war. Noch mehr bedeutet der Genuss der Freiheit jenen, die sie aus politischen und gesellschaftlichen Gründen entbehren müssen. Erst recht aber wird der Genuss des Lebens durch die Konfrontation mit Krankheit, Leid und Tod vertieft. Denn auch die Normalität wird zum Genuss, wenn die "Unnormalität" ins Leben hereinbricht.

| Der Autor ist freier Philosoph in Berlin |

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