Kein Unfall, sondern ein Sabotageakt

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Die naturwissenschaftliche Ausbildung ist bei uns so schlecht, dass die Bevölkerung alle Schauermärchen glaubt.

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Die naturwissenschaftliche Ausbildung ist bei uns so schlecht, dass die Bevölkerung alle Schauermärchen glaubt.

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Allgemein wird von einem Unfall beim Tschernobylreaktor gesprochen - ich kann mich dem nicht anschließen. Da ein von der Zentrale in Moskau nicht erlaubtes und gefährliches Experiment aus Ehrgeiz des Direktors durchgeführt wurde, möchte ich lieber von einem Sabotageakt sprechen. Wie soll man es denn sonst bezeichnen, wurden doch alle Sicherheitsregelungen ausgeschaltet. Damit wollte man testen, ob bei Stromausfall durch die Rotationsenergie der Turbine noch genügend elektrische Energie bis zu jenem Zeitpunkt erzeugt werden kann, an dem die Notstromversorgung einsetzt. Dies ist nicht gelungen - noch bevor die Notstromaggregate anliefen und die Notstromversorgung der Steuerung des RBMK Graphitreaktors hätten übernehmen können, kam es zu zwei Explosionen. Der Leistungsanstieg des Reaktors erfolgte schneller, als man angenommen hatte.

Durch die Explosion kam die nukleare Kettenreaktion sofort zum Stillstand. Das ist durch die medizinische Untersuchung der anwesenden Personen bewiesen, die ergab, dass niemand von ihnen einem hohen Neutronenfluss ausgesetzt gewesen war. Durch die radioaktiven Emissionen als Folge der Explosion kam es zu einer Erhöhung der radioaktiven Strahlung innerhalb der Sicherheitszone von 30 Kilometern. Die größten Werte betrugen 15 Strahlungseinheiten (mrem) pro Stunde, die aber schon am 5. Mai 1986 auf drei und am 8. Mai auf 0,15 am Rande der Sicherheitszone gesunken waren.

Um dies mit den Werten der natürlichen, überall vorhandenen radioaktiven Strahlung vergleichen zu können, geben ich einige Zahlen: In Österreich erhält die Bevölkerung seit jeher - lange vor der Erfindung der Kernenergie - 80 bis 170 Strahlungseinheiten pro Jahr. Die gleiche Strahlungsdosis erhält ein Österreicher zusätzlich dadurch, wenn er in Ziegelbauten wohnt. Wer wiederum in Kerala im Süden Indiens, weit weg von Kernreaktoren lebt, erhält durch die dort vorhandene sehr hohe natürliche Radioaktivität im Jahr 2.600 Strahlungseinheiten.

Wie steht es aber mit den emittierten radioaktiven Stoffen aus Tschernobyl? Etwa 50 Prozent der Emissionen umfassten das kurzlebige Jod, das für die Schilddrüse gefährlich ist. Weiters wurde langlebiges Cäsium emittiert, das man noch heute in geringen Spuren in Pilzen findet. Würde man bald nach dem Ereignis 100 Kilogramm Frischgemüse oder Pilze gegessen haben, so hätte man dadurch zehn Strahlungseinheiten bekommen - das ist etwa das Zehnfache dessen, was ein Mann durch den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau im Jahr durch deren Eigenstrahlung von etwa 35 Strahlungseinheiten erhält.

Leider ist durch Überbetonung anderer Fächer in den höheren Schulen die naturwissenschaftliche Ausbildung in den deutschsprachigen Ländern so schlecht, dass von der Bevölkerung Schauermärchen geglaubt werden und ganz übersehen wird, dass Radioaktivität nicht nur eine seit Jahrtausenden den Menschen begleitende Naturerscheinung ist, sondern dass überhaupt Leben nur durch geringe radiaoaktive Einwirkungen möglich ist: Stimulierung der Lebensvorgänge, Hormesiseffekt, Heilwirkungen im radioaktiven Bergwerksstollen in Gastein et cetera. Anzumerken ist weiters, dass in einem Menschen durch die in diesem enthaltenen natürlichen radioaktiven Stoffe (Kalium, Kohlenstoff) täglich 800 Millionen radioaktive Zerfallsprozesse stattfinden.

Oft wird darauf verwiesen, dass radioaktive Strahlung Krebs erzeugen kann. Das ist richtig, doch es kommt auf die Dosis an. Kinder, die 250.000 Strahlungseinheiten erhielten, zeigten über 25 Jahre hinweg keine Erhöhung der Krebsrate. Auch in Kerala konnte bisher keine erhöhte Krebsrate nachgewiesen werden. Leukämie kann durch hohe Strahlendosen entstehen, doch beträgt die Inkubationszeit der durch Radioaktivität induzierten Krankheit Jahre. Bekannte Fälle aus Schottland haben bewiesen, dass Leukämie vor allem durch spezielle Viren verbreitet wird. Bei der durch internationale Messungen und Untersuchungen festgestellten radioaktiven Folgen des Tschernobyl-Ereignisses ist es erstaunlich, dass Hilfsorganisationen mit unwahren und übertriebenen Darstellungen um Spenden für die dortige Bevölkerung bitten. Sicherlich ist die gesundheitliche Lage der Bevölkerung in Weißrussland schlechter als in Westeuropa und es ist glaubhaft, dass Vitamin- und Medikamentenmangel herrschen. Diese haben jedoch andere Ursachen als die radioaktiven Emissionen. Durch falsche Behauptungen leidet nur die Glaubwürdigkeit der spendenwerbenden Organisation.

So erhielt ich dieser Tage ein Schreiben in dem behauptet wird, dass von den 600.000 Liquidatoren, die nach dem Reaktorereignis aufräumten, viele mit ihrem Leben bezahlt hätten. Gewisse Krebsformen hätten sich verhundertfacht. Seit dem Unglück sei Schilddrüsenkrebs allein vom Jahr 1999 auf 2000 um 34 Prozent gestiegen. Wieso kann man das behaupten, woher hat man diese Ergebnisse? Russische Krebsspezialisten haben doch darauf verwiesen, dass von einer Steigerung gegenüber der Zeit vor Tschernobyl nicht geredet werden kann, da es vorher keine Krebsstatistik gab. Tatsache ist, dass 1.800 nicht tödliche und behandelbare Krebsfälle bei Kindern bis 14 Jahren durch Aufnahme von radioaktivem Jod aufgetreten sind. Von den Liquidatoren starben 31 Personen an Strahlenschäden. Von den 2,5 Millionen Bewohnern der Gegend sind in den letzten 15 Jahren 135.000 Personen gestorben, was der normalen Sterberate in Osteuropa entspricht. Die Behauptung, dass die 135,000 Personen durch Strahlenschäden starben stammen von zwei Leitern ukrainischer Spendenorganisationen.

Wenn man bei der Energieerzeugung umweltschonend vorgehen will, muss man wenigstens logisch sein. Ein Kohlekraftwerk emittiert nicht nur Kohlendioxid, sondern auch radioaktive Stoffe, deren Strahlungswirkung höher sein kann, als die eines Kernkraftwerks im Normalbetrieb. Die Schwermetalle in der Kohleasche, die in der Kohle enthaltenen radioaktiven Stoffe wie radioaktives Blei oder Radium oder das nicht radioaktive Arsen sind ebenfalls umweltgefährdender als Kernkraftwerke im Normalbetrieb.

Westliche Kernkraftwerke, wie Temelin, sind Wasserreaktoren und keine gefährlichen, der Plutoniumerzeugung dienende Graphitreaktoren wie in Tschernboyl. Krebserzeugende von Kraftfahrzeugen emittierte Stoffe werden in der Öffentlichkeit nie erwähnt. Man verbietet weder Kraftfahrzeuge, noch radioaktives Polonium enthaltenden Tabak. Kernkraftwerke werden bekämpft, die chemisch-biologischen Schädigungen durch Benzpyren aus den Auspuffen regen wenig auf. Wo ist die Logik, wo das Messen der Quantitäten?

Der Autor ist Professor emeritus am Institut für Theoretische Physik der Universität Innsbruck.

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