"Keine Türken, nur mehr Muslime!"

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Die Religion hat die Nation als prägendes Identitätsmerkmal abgelöst, sagt der spanisch-amerikanische Religionssoziologe José Casanova. Im Vergleich mit den USA erwächst daraus ein großes Problem: Denn Europas Modell einer homogenen Kultur ist ein "Rezept für Desaster"!

Die Furche: Herr Professor Casanova, Gratulation zum Europameister-Titel für Ihre Heimat! Darüber hinaus: Was sagt der Wissenschafter, der sich mit Religion und Nation und den daraus resultierenden Konflikten beschäftigt, zum nationalen Kräftemessen der letzten Wochen?

José Casanova: In früheren Zeiten haben wir Europäer uns auf dem Schlachtfeld bekämpft. Das war das Modell, das Europa jahrhundertelang geprägt hat: Alle Staaten gegeneinander im Kampf. Heute sind wir eine politische und wirtschaftliche Interessengemeinschaft. Doch innerhalb dieser Einheit haben wir uns nationale Identitäten bewahrt, die sich unter anderem im Fußball zeigen - und mit dem Ball und um den Ball zu kämpfen, ist in jedem Fall die bessere Methode als ein Krieg.

Die Furche: Beim Spiel Deutschland gegen die Türkei waren aber die Befürchtungen groß, dass aus dem Spiel auf dem Fußballfeld auch eine Schlacht in den Straßen wird.

Casanova: Ich habe das anders erlebt: Ich war in Berlin und war überrascht, wie viele Leute T-Shirts mit zwei Fahnen darauf getragen haben - also mit der deutschen und der türkischen Flagge aufgetreten sind. Sie haben gesagt: "Wir gewinnen sowieso: Wenn die Türken gewinnen, gewinnen wir, und wenn die Deutschen gewinnen, gewinnen wir auch!"

Die Furche: Muss die Chiffre "Türkei" nicht sowieso sehr oft für die generell ablehnende oder zumindest misstrauische Haltung gegen Muslime und den Islam in Europa herhalten?

Casanova: Ich habe Ende der 1960er-Jahre in Innsbruck studiert. Und wegen der damals noch viel höheren Löhne in Deutschland bin ich oft zum Arbeiten über die Grenze gefahren und habe dort mit türkischen Gastarbeitern zusammengearbeitet. Und es stimmt, damals gab es keine Muslime in Deutschland, sondern nur Türken. Heute ist es umgekehrt: Heute gibt es keine Türken mehr, sondern nur mehr Muslime.

Die Furche: Woran liegt das?

Casanova: Das ist ein Globalisierungsprozess. Früher dachten wir, die Nation wäre unsere letzte Identität. Heute sehen wir, dass dem nicht so ist - die Nation wird nicht verschwinden, aber wir definieren uns zunehmend über religiöse Identitäten. Wir erleben die Formierung von globalen muslimischen, christlichen, hinduistischen und so weiter Identitäten. Das sind globale, nicht mehr auf ein Territorium beschränkte Identitäten. Durch die weltweite Migration wird die Verbreitung dieser Identitäten vorangetrieben.

Die Furche: Das heißt, die modernen Nomaden brauchen eine Identität zum Mitnehmen in die Fremde, und dazu eignet sich die Religion sehr gut.

Casanova: Und wir dachten, dass Religion Privatsache ist und dass sie nichts mit Politik zu tun hat. Das war unsere Annahme - besonders in Europa. Aber das Gegenteil findet statt, die Religion wird überall deprivatisiert, kommt wieder in die Öffentlichkeit - in verschiedenen Formen: nicht nur als fundamentalistische Bewegung, sondern auch in einer die Zivilgesellschaft und die Demokratie bereichernden Weise.

Die Furche: Wann setzen Sie den Beginn dieses Eroberungszugs der Religionen in der Öffentlichkeit an?

Casanova: Für mich ist dafür das Jahr 1979 entscheidend. In ganz verschiedenen Teilen der Welt haben damals die Religionen ihren Einfluss geltend gemacht: Der polnische Papst ist nach Polen gekommen und hat dadurch die Gründung der Solidarno´s´c-Bewegung mitinitiiert. In den USA sind plötzlich die fundamentalistischen Protestanten in den Wahlkampf eingestiegen - und haben Ronald Reagan zum Präsidenten gemacht. Im Iran hat die islamische Revolution nach der Macht gegriffen und in Südamerika ist die Befreiungstheologie zu einer politischen Revolution geworden. Und diese Liste lässt sich mühelos fortsetzen: Sei es Indien oder Israel oder der palästinensische Nationalismus - was früher säkular geprägt war, wird mehr und mehr religiös bestimmt. Diesen Prozess merkt man überall.

Die Furche: Nach Samuel Huntingtons Theorie vom bevorstehenden "Clash of Civilizations" sagt heute der Philosoph Peter Sloterdijk, in die globalen "Zornbanken" werde mehr und mehr in religiöser Währung eingezahlt, und er fürchtet einen "Clash der Monotheismen" - schließen Sie sich diesen pessimistischen Szenarien an?

Casanova: Ich bin von Grund auf optimistisch und glaube nicht, dass es dazu kommt. Die größte Gefahr sehe ich eher darin, dass sich solche Ansagen als "self fulfilling prophecies" erweisen.

Die Furche: Sie meinen, in jedem Konflikt wird stets nach der Schuld der Religion gesucht - und eine solche gefunden, auch wenn es keine gibt.

Casanova: Wenn wir von Religionen und Gewalt reden, müssen wir uns zuallererst unserer säkularistischen Vorurteile bewusst sein. Die Mehrheit in jedem europäischen Land - mit Ausnahme von Norwegen und Schweden - glaubt, dass Religionen intolerant sind und Konflikte verursachen.

Die Furche: Was ist das Vorurteil?

Casanova: Das kurze Jahrhundert von 1914 bis 1989 ist das blutigste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit. Doch keiner dieser Konflikte hatte mit Religionen zu tun. Auslöser waren säkulare Ideologien oder Nationalismen. Aber wenn wir Europäer heute irgendwo auf der Welt Konflikte analysieren, dann finden wir Religionen als Ursache. Und wir denken ans 16., 17. Jahrhundert, an unsere religiösen Kriege und sagen: "Aha, wir waren damals auch so, aber wir haben gelernt, Staat und Politik zu säkularisieren, und deswegen haben wir heute Frieden." Aber das ist ein Mythos, und dieser Mythos ist falsch.

Die Furche: Wie war es wirklich?

Casanova: Seit dem westfälischen Frieden hat sich in Europa der Grundsatz "cuius regio, eius religio - wessen das Land, dessen die Religion" durchgesetzt. Das heißt: Kein Staat ist säkularisiert, aber jeder Staat ist konfessionalisiert worden. Die Leute und die Religion wurden territorialisiert. Die Minderheiten mussten weg. Das Problem religiöser Pluralismus war gelöst.

Die Furche: Und dieses Konzept der Trennung hängt Europa noch immer nach?

Casanova: Das ist Europas Problem: Das Modell einer homogenen Kultur ist ein Rezept für Desaster. Wir müssen lernen, dass alle Religionen zusammenleben.

Die Furche: Europas Problem? - Sie leben als Spanier in den USA, was ist dort anders?

Casanova: Der Unterschied ist riesig. Wenn man in Amerika die Leute fragt, wie religiös sie sind, dann lügen sie. Sie sagen, dass sie öfter in die Kirche gehen und beten, als sie das eigentlich tun. Sie glauben, gute, moderne Amerikaner zu sein, heißt religiös zu sein. In Europa ist das umgekehrt: Die Leute sagen, sie seien weniger religiös, als sie es wirklich sind. Sie wollen sich nicht als religiös sehen, genieren sich für Religion. In Europa sehen wir Religion als etwas Altes. In Amerika ist Religion modern. Wenn Menschen aus Süditalien früher in die Industriestädte Italiens, nach Mailand oder Turin gingen, dann haben sie ihren Glauben verloren. Wenn sie nach New York, Chicago, Philadelphia gekommen sind, sind sie dort erst fromme Katholiken geworden. Bei Juden genau dasselbe, oder heute bei Muslimen, Hindus, Buddhisten … Wer nach Amerika einwandert, kann alles andere zurücklassen, aber nicht seine Religion. Durch ihre Religion werden sie mehr Amerikaner. Je religiöser sie sind, desto bessere Amerikaner werden sie. In Europa wird ihnen das Gegenteil unterstellt - wer seine Religion mitbringt, kann nie ein richtiger Europäer werden. Das ist unser großes Problem.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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