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Er gibt unbekannten Tätern ein Gesicht: Thomas Müller, Leiter der Abteilung "Kriminalpsychologischer Dienst" im Innenministerium. Im Interview spricht er über Tatortanalysen, Verbrecherseelen - und "Serienmörder" Schiller.

Die Furche: Sie analysieren die psychologischen Spuren, die ein Täter am Tatort hinterlässt. Würden Sie sich zutrauen, mit Ihrem Wissen das perfekte, spurlose Verbrechen begehen zu können?

Thomas Müller: Da müssen Sie schon Friedrich Schiller fragen, der in seinen "Räubern" den Franz Moor sagen lässt: "Den Mord zu begehen, ohne des Messers Spur zu hinterlassen". Es ist nicht meine Aufgabe, Verbrechen zu begehen, sondern sie zu analysieren. Eines ist aber klar: Wenn zwei Verbrechensanalytiker, zwei Rechtsmediziner und zwei Kriminalisten darüber diskutieren, wie man ein perfektes Verbrechen begehen könnte, wird es sehr schwierig werden, den Fall zu klären.

Die Furche: Was ist die Aufgabe der Tatortanalyse?

Müller: Es geht um bestimmte Gesetzmäßigkeiten: Die Kriminalpsychologie kann niemals ein Verbrechen lösen. Unsere Aufgabe ist es, aus den objektiven Kriterien Verhalten abzuleiten. Wenn jemand ein Verbrechen begeht, muss er bestimmte Entscheidungen treffen, die sich in der Regel an einer Veränderung der Umwelt feststellen lassen. Die Frage ist: Gelingt es uns im Rahmen der Tatortanalyse, dieses Verhalten zu finden? Dann müssen wir es mit ähnlich gelagerten Fällen vergleichen, und dann können wir etwas über diese Person aussagen.

Die Furche: Worauf achten Sie am Tatort besonders?

Müller: Wir brauchen maximale Information über das Opfer selbst. Darüber hinaus brauchen wir rechtsmedizinische Gutachten, ballistische Untersuchungen oder Brandsachverständige. Im Fall Fuchs, der uns von 1993 bis 1997 beschäftigt hat, haben wir auch Kenntnisse von Sprengstoffchemikern, Linguisten und Elektronikern benötigt. Neben diesen objektiven Kriterien brauchen wir natürlich auch die Abbildungen des Verhaltens, also die Fotos.

Die Furche: War der Fall Fuchs Ihr komplexester Fall?

Müller: Nein, es war vielleicht der Fall, der am längsten gedauert hat. Aber wenn man einmal 6.400 Einzelentscheidungen hat, dann ist es nicht mehr so schwierig, über diese Person etwas auszusagen.

Die Furche: Sie haben in Österreich das Analyse-System "ViCLAS" (Violent Crime Linkage Analysis System) aufgebaut, um Gewaltverbrechen vergleichen zu können und so Serientätern auf die Spur zu kommen. Wie viele Fälle sind darin gespeichert?

Müller: Rund 2.500. Wir haben dieses System aber nicht nur in Österreich etabliert, sondern uns bemüht, es auch anderen Staaten bekannt zu machen. In der Zwischenzeit decken wir damit über 200 Millionen Europäer ab. ViCLAS ist eine Ergänzung zum DNA-Datenbankprojekt, weil wir in sehr vielen Fällen keine biologischen Spuren haben. Aber Verhalten hinterlässt man immer.

Die Furche: Neben Serientätern haben Sie sich intensiv mit Sexualverbrechern beschäftigt. Gibt es Lebensläufe, die für solche Menschen typisch sind?

Müller: Die Ursache liegt manchmal im vierten, fünften oder sechsten Lebensjahr. Diese Personen geraten als Kinder oft in eine für sie belastende Situation, mit der sie nicht mehr umgehen können. In dieser Situation flüchten sie sich in Gewaltphantasien. Und plötzlich sind sie mächtig, den Lehrer zu vernichten oder den Stiefvater, der die Mutter vergewaltigt hat, umzubringen. Diese Gewaltphantasien bauen sich immer weiter auf, bis sie im Alter von 13 oder 14 Jahren in die normale sexuelle Entwicklung kommen. Und plötzlich hat man eine Verbindung zwischen Gewaltphantasien und Sexualität - und damit die Basis für ein Sexualverbrechen.

Die Familie ist also die Keimzelle des Friedens. Und wenn man etwas verhindern will, sollte man seinen Kindern die Möglichkeit geben, immer ihre Probleme zu äußern.

Die Furche: Bei Sexualtätern gilt die Rückfallquote als besonders hoch. Ist es derzeit möglich, das Rückfallrisiko seriös einzuschätzen?

Müller: Wir haben bei der Aufarbeitung von hunderten Einzelakten erkannt, dass jene Personen, die beurteilen sollen, ob jemand gefährlich ist oder nicht, also die Gerichtspsychiater, in der Regel nicht die Informationen haben, die sie brauchen. Deshalb haben wir mit der größten Maßregelvollzugsanstalt Europas in Eichelborn bei Dortmund vor drei Jahren eine Kooperation mit dem Namen "Crossover-Design" begonnen: Man muss den Tatort analysieren und feststellen,was das Bedürfnis des Täters war, bevor man überhaupt mit den Leuten zu reden beginnt. Man darf nicht vergessen, welche Konsequenz eine falsche Beurteilung hat. Es hat Folgen für den Strafrahmen und das Strafausmaß, die Therapieform, die Sicherheit der Menschen in den Maßregelvollzugsanstalten oder Justizanstalten, und nicht zuletzt auch eine ökonomische Konsequenz, denn ein Tag in einer Maßregelvollzugsanstalt kostet das Doppelte oder Dreifache wie ein Tag im Gefängnis.

Die Furche: Inwieweit ist es für Sie zum Erstellen eines Täterprofils notwendig, sich in die Gedankenwelt des Verbrechers hineinversetzen zu können?

Müller: Können Sie nachvollziehen, welche sexuelle Befriedigung es bedeuten kann, eine Frau auszuweiden? Ich kann es nicht. Aber ein Frank Gust kann es. Ich kann mich nicht in den Täter hineinversetzen, ich kann nur seine Schuhe benützen. Es ist wissenschaftlich gefordert, dass man ein bestimmtes Verhalten mit Fällen abgleicht, wo ähnliches Verhalten vorliegt. Die eigentliche Hilfe für die Exekutive liegt ja nur dann vor, wenn man ein bestimmtes Verhalten pragmatisch erklären kann. Diese Erklärungen findet man aber nicht in Büchern. Deshalb verbringe ich einen guten Teil meiner Zeit in Hochsicherheitsgefängnissen, um von diesen Leuten zu einem bestimmten Verhalten subjektive Aussage zu erhalten, die wir anhand der objektiven Kriterien abgleichen können.

Die Furche: Gibt es ein Verbrechen, das Sie noch erschüttern könnte?

Müller: Ich wäre schlecht beraten, an die Analyse der Fälle emotional heranzugehen. So grotesk es klingt: Ich muss ja mit demjenigen zusammenarbeiten, der das Verbrechen begangen hat. Erst kürzlich habe ich in einem deutschen Hochsicherheitsgefängnis Lutz Reinstrom getroffen, der sich unter dem Jubel des Stadtsenates einen Atombunker gebaut hat. Erst später hat man festgestellt, dass er ihn nicht gebaut hat, um sich für den Dritten Weltkrieg vorzubereiten, sondern um zwei Frauen längere Zeit gefangen zu halten, umzubringen und in Salzsäure aufzulösen. Lutz Reinstrom ist ein witziger, einnehmender Kerl. Er hat nur einen Nachteil: Er wird den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen. Und wenn man beobachtet, wie er versucht, jeden auf seine Seite zu ziehen und alles nur als Unfall darzustellen, dann muss man sagen: Es gibt keinen Fall und keine Persönlichkeit, die nicht noch etwas Neues bietet.

Die Furche: Sie beschäftigen sich nicht nur mit realen, sondern auch mit fiktiven Verbrechen: Im Projekt "Theatertäter" analysieren Sie Schillers "Räuber" und Shakespeares "Richard III." aus kriminalpsychologischer Sicht. Wie lautet Ihre Erkenntnis?

Müller: Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr habe ich erkannt, dass Schiller und Shakespeare in ihrer Literatur in der Lage waren, komplexe Verbrechen zu begehen, wo einzelne Aspekte mit Fällen verglichen werden können, die jetzt gerade auf meinem Schreibtisch liegen. Sie haben sie aber nicht begangen, sondern Stücke darüber geschrieben. Die Frage ist also: Warum wird aus dem einen Menschen ein großartiger Literat und aus dem anderen ein Serienmörder?

Die Furche: Haben Sie darauf eine Antwort?

Müller: Wenn wir das wüssten, wären wir einen riesigen Schritt weiter. Wir kennen heute vielleicht zehn oder zwölf Kriterien, die dazu führen, dass jemand zu einem Serienmörder wird. Aber wir kennen noch lange nicht alle.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

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