Kinder a la carte bestellen

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Das Jahr 2000 wird als Jahr der Entschlüsselung des Gencodes des Menschen in die Geschichte eingehen. Demnächst ist es soweit, denn 99 Prozent des Codes seien schon entziffert, hieß es im April.

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Das Jahr 2000 wird als Jahr der Entschlüsselung des Gencodes des Menschen in die Geschichte eingehen. Demnächst ist es soweit, denn 99 Prozent des Codes seien schon entziffert, hieß es im April.

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Jahrelange Bemühungen von Forschung und Wirtschaft stecken hinter diesem Erfolg, Unsummen von öffentlichen und privaten Geldern sind investiert worden. Mit dem Entschlüsseln allein ist es allerdings nicht getan. Jetzt kennt man zwar die Buchstaben der "Geheimschrift", in der unsere Erbinformation codiert ist. Um den ganzen Text zu entziffern, bedarf es weiterer Anstrengungen. Aber auch dieser Schritt wird gelingen. Und eines Tages wird der Mensch die "Blaupause des Lebens" in Händen halten.

Geradezu Wunderbares erhofft man sich von diesem Durchbruch. Man werde Geißeln der Menschheit, bisher unheilbare Krankheiten wie Krebs, Aids oder Alzheimer bekämpfen können, vielleicht das Altern verhindern. Wer kann guten Gewissens gegen solche Wohltaten auftreten? Nur Ewiggestrige, Fortschrittsfeinde, Meckerer, die immer ein Haar in der Suppe finden. Ihretwegen werde man doch nicht die Zukunftstechnologie schlechthin einbremsen!

Bei diesen Wohltaten wird es aber nicht bleiben, vielmehr wird alles, was möglich ist, auch umgesetzt werden. Vielleicht nicht im ersten Anlauf, aber mit der Zeit. Denn unsere Gesellschaft ist unfähig, wirksame Barrieren gegen das zu errichten, was zwar menschenunwürdig ist, sich aber als nützlich, wirtschaftlich einträglich oder unterhaltsam erweist.

Wer das feststellt, outet sich nicht als unverbesserlicher Pessimist, sondern zieht nur die Lehren aus dem, was bisher geschah. Woran haben wir uns nicht alles gewöhnt, was als menschenunwürdig galt! Etwa dass man Kinder in der Retorte erzeugt: Längst wird das Verfahren nicht nur bei verzweifelten Ehepaaren angewandt. Mittlerweile gibt es im Internet Angebote für Samen- und Ei-spenden. Körperliche Vorzüge werden da ebenso in die Auslage gestellt wie Intelligenzquotienten. Man kann sogar Schwangerschaften in Auftrag geben.

Auch können sich Frauen in ihren jungen Jahren ihre hochwertigen Eizellen entnehmen, sie künstlich befruchten und tieffrieren lassen, um sie erst in einer späteren Lebensphase zu "aktivieren". So können auch Kinder zur Welt kommen, deren Väter längst gestorben sind. Sie werden so zu Spielbällen von Launen und Moden.

Interessant ist der Fall von Billy aus Los Angeles: Als er zur Welt kam, war sein Zwillingsbruder schon sieben Jahre alt. Billy war ohne Wissen der Eltern von den Ärzten als Reserve für den Bruder "erzeugt" und auf Eis gelegt worden. Weil man in der Reproduktionsklinik keine Verwendung mehr für das tiefgefrorene Kind hatte, bot man ihn der 44-Jährigen an und sie trug ihn - Gott sei Dank - aus.

Je mehr technisch möglich wird, umso mehr wird man das Produkt Kind gezielt gestalten. Schon jetzt gibt es Verfahren, die es gestatten, mit hoher Wahrscheinlichkeit das Geschlecht des Kindes vorher zu bestimmen. Ein US-Unternehmen in Virginia lockt mit einer Erfolgsquote von 90 Prozent dank ihres Spermiensortierers.

Im Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie wurden Mäuse genetisch so verändert, dass sie doppelt so viele Männchen wie Weibchen zeugen. "Für die Zukunft halte ich auch eine 100prozentige Auswahl für möglich", beurteilte Bernhard Hermann, der Leiter des Forscherteams, das Potenzial seiner Entdeckung, will das Verfahren aber nur in der Tierzucht angewendet wissen. Allerdings: Was bei Säugetieren funktioniert, wurde bisher stets beim Menschen angewendet.

Das Erbgut testen Ist einmal das Erbgut des Menschen entschlüsselt, wird man früher oder später künstlich gezeugte Kinder routinemäßig auch auf Defekte untersuchen. Und sobald man das technisch halbwegs beherrscht, wird man den Eltern nahelegen, aus Verantwortung für ihre Nachkommenschaft solche Tests durchführen zu lassen. Die explodierenden Kosten der Gesundheitssysteme werden das Ihre an Überzeugungsarbeit in dieser Frage leisten.

Ideologisch ist der Boden für eine solche Entwicklung längst aufbereitet. Im Zeitalter der Empfängnisverhütung sind eigentlich nur noch Wunschkinder vertretbar. Beim derzeitigen Stand der Technik bedeutet Wunschkind vor allem, dass man den Zeitpunkt der Zeugung steuert. Aber das Wunschkonzept lässt sich problemlos auf andere Merkmale ausweiten. Der deutsche Philosoph Dieter Birnbacher sagt es trocken: "Entscheidungsmöglichkeiten über die qualitativen Merkmale der Kinder" seien auch "Entscheidungsmöglichkeiten über einen wesentlichen Teil des eigenen Lebens".

Auch die deutsche Bundesärztekammer plädierte im Februar in einem Papier für die Präimplantationsdiagnostik, mit der man Erbkrankheiten erkennen kann. Selbstverständlich wurde die Forderung eingeschränkt auf Fälle, in denen ein "hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht".

Man kann sich vorstellen, wie rasch eine solche Einschränkung fallen würde in einer Gesellschaft, die heute schon einen solchen Horror vor Behinderung hat, dass sie die Abtreibung behinderter Kinder bis zur Geburt zulässt und Ärzte zu Schadenersatz verurteilt, wenn sie bei vorgeburtlichen Untersuchungen solche Behinderungen übersehen.

Bleibt also nichts anderes, als zu klagen und brav mitzutrotten in das Zeitalter des perfektionierten (Un-)Menschen? Es geht darum, geduldig und nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es der Würde des Menschen widerspricht, ihn zum Gegenstand von Nützlichkeitsüberlegungen zu machen - in welcher Lebensphase er sich auch immer befinden mag, ob er als befruchtete Eizelle am ersten Tag seiner Existenz oder ob er im Koma lebt.

Eine Gesellschaft, die den Menschen zum Gegenstand herabwürdigt, indem sie ihn nach Gutdünken herstellt, abtötet, patentiert oder wie jetzt im "Kunstwerk" des Herrn Schlingensief im Container vor der Oper versteigern lässt, kann nicht überleben, auch wenn sie in Information, Unterhaltung und Geld schwimmt. Der Mensch lebt eben nicht allein vom Brot, von dem, was ihm nützlich erscheint. Das wurde uns vor 2000 Jahren geoffenbart, damit wir unsere Menschenwürde bewahren.

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