Kaum jemand - nicht einmal die angeblich so treffsicheren Buchmacher - rechnete mit diesem Ausgang des Brexit-Votums. Wir wissen jetzt: ein stolzes Parlament, das mit großer Mehrheit für den Verbleib in der Europäischen Union eintritt, kann durch den knappen Ausgang einer von innenpolitischen Motiven überlagerten Volksabstimmung "overruled" werden. Was daran so demokratisch sein soll, erschließt sich mir nicht. Boris Johnson, einer der beiden Männer mit auffälliger Haartracht, die das politische Geschehen dieses Jahres prägen, kann es uns nun auch nicht mehr erklären. Er hat sich vor seiner Verantwortung für das, was er aus Geltungssucht angezettelt hat, gedrückt.
Nicht nur jüngere Briten mit ihrer mehrheitlich EU-freundlicheren Einstellung demonstrieren nun dafür, die ganze Frage noch einmal, und diesmal ernsthafter anzugehen. Es wäre ihnen zu wünschen, dass ihr Anliegen Erfolg hat. Bis zum Herbst ist jedenfalls Zeit, die Sache neu zu überdenken. So viel Spielraum sollten auch die EU-Repräsentanten einräumen, statt in hoheitlich-beleidigtes Trotzverhalten zu verfallen.
Mit der lapidaren Versicherung, es gebe ohnehin keine Krise der EU, ist es nicht getan. Noch weniger mit der bestürzend kleinlichen Ankündigung, die englische Amtssprache in Brüssel gegenüber Französisch und Deutsch zurückdrängen zu wollen. Viel wichtiger wäre - so die treffliche Formulierung des deutschen Ökonomen David Folkerts-Landau - "daran zu arbeiten, die EU wieder attraktiver zu machen - statt darüber nachzudenken, wie wir diejenigen exkommunizieren, die daran zweifeln".
Umbau statt Abriss Europas
Die wachsende EU-Skepsis gründet nämlich in realen Problemen von Menschen, die jedenfalls eine größere Aufmerksamkeit verdienen, als sie "Wirtschaftssubjekten" in den üblichen ökonomischen Modellen zukommt. Sie wollen mit ihren Sorgen vor sozialem Abstieg und integrationskultureller Überforderung ernst genommen werden. Eine ähnliche Grundstimmung richtet sich auch in den USA gegen die derzeitige Form der Globalisierung mit fallenden Realeinkommen der Beschäftigten und zunehmender Ungleichheit.
Der Weg zurück zu wieder größerem Vertrauen wird nach dem manifesten Versagen in der Flüchtlingskrise nicht einfach sein. Er wird auch nicht nur darin bestehen können, den ökonomischen Nutzen der Europäischen Union besser als bisher nachzuweisen. Dass Kampagnen, die ausschließlich am wirtschaftlichen Nutzen ansetzen, zu kurz greifen, hat ja gerade die Brexit-Abstimmung gezeigt. Der Publizist Navid Kermani bringt es auf den Punkt: "Wer Europa auf den ökonomischen Vorteil reduziert, steht mit leeren Händen da, wenn die Bilanz nicht mehr stimmt."
Ein europäischer Zukunftskonvent sollte unter neuer(!) Führung die Weichen stellen und seine Arbeit angehen, bevor bei den nächsten EU-Wahlen jene die Oberhand bekommen, denen es hinter dem Propaganda-Satz vom "patriotischen Frühling" nicht um den Umbau, sondern um den Abriss des europäischen Ideengebäudes geht.
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