Körperlichkeit  - Foto: iStock / Kikovic<br />

Körperlichkeit und Kindheit

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Eine gesunde Selbstwahrnehmung bedeutet vor allem, das eigene „Revier“ und das der anderen zu erspüren – auch um die Ziele von Grenzverletzungen zu erahnen.

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Eine gesunde Selbstwahrnehmung bedeutet vor allem, das eigene „Revier“ und das der anderen zu erspüren – auch um die Ziele von Grenzverletzungen zu erahnen.

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Es war bei IKEA, in den Ausstellungsnischen für Badezimmer-Möblierung. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs, sieben Jahre alt, klagte laut: „Mama – warum greifen mir alle Leute in die Haare?“ Aufmerksam geworden, blickte ich zu ihr – und tatsächlich, fast alle, die an der Kleinen vorbeigingen, schnappten nach ihrem Kopf und drangen ins voluminöse schwarze Kraushaar ein. Die Mutter, eine sehr große, schlanke Blondine, gab keine Antwort. Der – vermutlich afrikanische – Vater war nicht anwesend, daher entschloss ich mich, selbst aktiv zu werden und gab ihr eine Erklärung: „Weißt du – die haben noch nicht gelernt, ihre Hände zu beherrschen!“

Körperbeherrschung umfasst nicht nur all das, was man unter „Bewegung und Sport“ in der Schule lernt, sondern dazu gehört besonders, Grenzen wahrnehmen zu können. Beispielsweise zwischen angenehm oder unangenehm, erwünscht oder unerwünscht. Es geht vor allem aber darum, das eigene „Revier“ und das von anderen zu erspüren und die Ziele von Grenzverletzungen und deren Folgen zu erahnen. Körperbeherrschung findet immer in Beziehung statt: in Beziehung zu sich selbst. In Beziehung zu bzw. von anderen. Dazu zählt auch „die Gesellschaft“ – Bezug auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, und damit immer auch in einem Rahmen von Machtausübung. Das zeigte als erste die US-amerikanische Psychologieprofessorin Nancy M. Henley (1934–2019) in ihrem Buch „Körperstrategien“ (1977, deutsch 1988 bei S. Fischer) an Hand etlicher Studien über das dominante Berührungsverhalten von Weißen gegenüber Farbigen und von Männern gegenüber Frauen. Fred Donaldson, US-amerikanischer Geograf, ist laut Selbstdarstellung Erfinder der „Methode“ „Original Play“. Seine „Spiel-Philosophie gegen Gewalt“ stammt aus dem Jahre 1970(!).

Als Ziel dieser Methode hatte er ausgerufen, „ohne Gewinner und Verlierer“ frei agieren zu können – wie junge Tiere. Ich finde das Wort „rangeln“ treffender – denn bei Beutetieren gibt es dieses Verhalten nicht, sehr wohl aber bei Rudelraubtieren, und dort dient es der Feststellung der Rangordnung. Dass Berührungen Dominanz austesten, ist vielen unbewusst – sie haben von klein auf gelernt, Höflichkeitsappellen zu gehorchen, auch nonverbalen. Eine Langzeitfolge feudaler Gesellschaftsordnungen. Es reicht, wenn die erwachsene Bezugsperson die Stirne runzelt oder aber lächelt.

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