"Konflikt und Kooperation" als Prinzip

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Europäisches Forum Alpbach 2017: Gesehen, gehört und mitgedacht von einem gelernten Österreicher, geboren und geeicht in der Opposition hinter dem Eisernen Vorhang, der in Österreich politisches Asyl erhielt und heuer dabei war, um den "Spirit" neu zu finden.

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Europäisches Forum Alpbach 2017: Gesehen, gehört und mitgedacht von einem gelernten Österreicher, geboren und geeicht in der Opposition hinter dem Eisernen Vorhang, der in Österreich politisches Asyl erhielt und heuer dabei war, um den "Spirit" neu zu finden.

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Das Wort "Spirit" bedeutet je nach Kontext und Interesse "Geist", "Sinn", "Seele", "Grundhaltung" oder auch "Schnaps". Warum meiner Meinung nach das Forum an Bedeutung wächst? Was ist so schätzensund achtenswert an ihm und an den Menschen, die es ermöglichen? Bei den Gesprächen im Forum entscheiden weder akademische Titel, noch Status noch Parteizugehörigkeit, es spricht jeder mit jedem und - ja, man grüßt einander sogar, wie eine Teilnehmerin auf Twitter verwundert vermerkt ("Sind wir überhaupt in Österreich?"). Jeder ist ansprechbar, fast ad hoc. (Ob dabei auch mitspielt, dass auf Bergdörflerisch automatisch geduzt wird?)

Mentale Jetlags kein Problem

Die Themen des Forums sind den tagesaktuellen Fragen weit voraus, akademische und politische Wadelbeißereien existieren nicht. Fantastische Organisation, ohne Krampf. Der Stil der Diskurse mag mitunter für Studenten - sie spielen eine große Rolle und sind eine Bereicherung des Forums - beängstigend unkompliziert sein: Man spricht auf Augenhöhe auch mit den bedeutsamsten Referenten, egal ob im Plenum oder in den Pausen. Dass so Kreativität und Selbstbewusstsein quantensprungartig und sekundenschnell wachsen, gehörte von Anfang an zum Konzept. Entscheidendes erfolgte in den letzten Jahren. Humor gewinnt an Terrain, es wird viel und gerne gelacht. Es menschelt, gefeiert wird auch, nona.

Orientierungswissen wird generiert, mitnehm- und adaptierbar, nicht bloß reproduziertes Wissen. Als informelle Spezialforen gelten die ad hoc zusammengesetzten Fahrgemeinschaften der Shuttlebusse zum und vom Forum. Eine Dialogkultur sui generis wird gelebt. Mentale Jetlags beim Pendeln zwischen Auffassungen, Themen und Generationen sind schnell überwunden. Das Europäische Forum Alpbach bietet selbst Konflikt und Kooperation an.

Das EFA ist eine speziell österreichische Kulturleistung, weil organisch aus der eigenen Geschichte entwickelt und aufbauend auf der Erfahrung mit Konflikten zwischen West und Ost. Es wurde nach dem Trauma des Zweiten Weltkriegs möglich, weil Österreich nicht allzu groß ist, im Inneren aber doch genussvoll verschieden.

Dialoge zwischen Brüssel, dem EU-Westen und den Reformstaaten, vor allem mit den Visegrád-Ländern, laufen seit Jahren ziemlich unrund. Viele sagen hier offen und betroffen, aber unter vier Augen: sie liegen in Scherben. Die Gründe dafür sind Tonfall und Stil des Dialogs, weniger bis kaum die Auffassungen in Sachfragen. Sind Westeuropa und die Reformstaaten zwei verschiedene Welten? Meines Erachtens wurden und werden die Differenzen gerne und sehr schnell auf grundsätzliche, nicht verhandelbare Ebenen gehoben.

Ost und West: zwei Narrative

Meine Gesprächspartner aus den Reformstaaten bestätigen, dass die Vergangenheit der Bürger der postkommunistischen Staaten ihre Reaktionen und Reflexe nach wie vor beeinflusst, subkutan auch die Verhaltensmuster der jüngeren Generation. Dies einfach auszulöschen oder ignorieren zu wollen, wäre gemeingefährlicher Selbstbetrug. Erfahrungen der Reformstaatler sind nicht teilbar, im Glücksfall mitteilbar, sie gehören akzeptiert und respektiert, auch wenn sie für Westeuropäer kaum adäquat nachzuvollziehen sind. Resigniert wird festgestellt: Zwei Narrative der gemeinsamen und doch getrennten Geschichte bestehen nebeneinander. Sind sie aber nicht zwei Seiten ein und derselben Geschichte? Die Deutungen schaukeln einander gegenseitig hoch, in kontraproduktive Paradoxien hinein. Auf der Strecke bleiben Menschen, Schicksale und Chancen der jüngeren Generationen. Sorgen haben wir viele gemeinsam, die Spannungen zeigen sich auf verschiedenen Gebieten der Gesellschaften in West-und Mittel-Ost-Europa.

Reformstaatler haben ein feines Gespür für Formen und Mutationen von Fremdbestimmung und Enteignung. Faktum ist, dass Bürger der Reformstaaten Westeuropäer vielfach als überheblich, herablassend, belehrend erleben. Ein Referent, eher liberal, meinte, dass es oft an Wille und Wunsch fehle, einander mit Empathie zu begegnen. Politisch wird mit der Idee von Kern-und Randeuropa, mit einem Europa der zwei Geschwindigkeiten und der Androhung von Stimmentzug operiert. Wie und wem soll dieser Konflikt nützen? Es wäre hoch an der Zeit, diese Schräglage des Diskurses zwischen West-und Osteuropa in Alpbach zum Thema zu machen! Warum werden gute Leistungen einiger Reformstaaten permanent schlecht geredet? Ein Gesprächspartner aus dem Westen meinte: "Nach dem Zweiten Weltkrieg spaltete eine mörderische Ideologie einen Teil von Europa ab. Dass es jetzt wieder zweigeteilt werden soll, das lassen wir nicht zu. Wir Westeuropäer würden euch vermissen, eure Kultur, Kunst, Literatur, Küche, einfach euch. Wir brauchen einander und gehören zusammen." Es gibt auch solche.

Beim Forum Alpbach spielt sich gegenseitige Überzeugungsarbeit überraschend herz-und hirnerfrischend ab. Beim Plenum der Wirtschaftsgespräche etwa war zu hören: wir brauchen Kriterien, die wir uns nicht selber geben, weil wir es gar nicht können -sondern solche, die gewissermaßen transzendent sind und Aspekte der Ethik enthalten. Das wäre vor einigen Jahren noch kaum möglich gewesen und hätte fast als unseriös gegolten: etwa zu fragen, wie Großkonzerne zu sozialer Verantwortung motiviert werden können - wohlgemerkt: nicht gezwungen, sondern motiviert. Im Rahmen der Gesundheitsgespräche mit über 250 Teilnehmern, die meisten unter 30, kam es zum Gipfel von Spitzenvertretern der Religionen: mit schlichten Fragen für alle, und es kamen auch klare Antworten.

"Komm und sieh!"

Die einzige Straße zum Kongresszentrum führt über den engen Hauptplatz mit der Kirche. Einmal stand der Verkehr still, kein Durchkommen: Das ganze Dorf hatte sich bei der Kirche zu einem Begräbnis versammelt. Seit 17 Jahren gibt es beim Forum täglich morgens Theologisches, symbolträchtig im Feuerwehrhaus, samt anschließendem Frühstück im Pfarrhaus. Ein junges Paar, das sich letztes Jahr hier kennengelernt hatte, ist heuer zurückgekehrt - um hier zu heiraten. Auch eine Form von Kooperation, eine sehr ursprüngliche. Christliche, jüdische, islamische Theologen reflektierten und deuteten heuer gemeinsam, Konsens, Identität und Courage. Die Gesinnung der Gründungsväter der Europäischen Union lässt auch grüßen, biblisch gesagt: "Komm und sieh!" (Joh 1,46).

| Der Autor ist Medienwissenschafter |

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