Konzentration auf die Welt

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Selber schneiden, selber schütten, selber tun: Ein neuer Dokumentarfilm zeigt "Das Prinzip Montessori" - und den Wert von autonomie und achtsamkeit im lernprozess.

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Selber schneiden, selber schütten, selber tun: Ein neuer Dokumentarfilm zeigt "Das Prinzip Montessori" - und den Wert von autonomie und achtsamkeit im lernprozess.

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Géraud schneidet von einem längeren Papierstreifen kleine Stücke ab: das erste, das zweite, das dritte, das vierte, das fünfte, das sechste. 20 Minuten lang ist der Vierjährige mit seiner Schere am Werk, fokussiert und konzentriert, als ob es um sein Leben ginge. Und das tut es in gewisser Weise auch: "Für ein Kind ist Konzentration eine Errungenschaft", lautet eine der Erkenntnisse im Film "Das Prinzip Montessori. Die Lust am Selber-Lernen", der diese Woche in die österreichischen Kinos kommt. Wer auch immer Kinder dabei begleite, müsse aufpassen, diese Konzentration nicht achtlos zu zerstören.

"Hilf mir, es selbst zu tun!"

Kinder ernst nehmen, ihnen die nötige Zeit und Freiheit lassen, um sich aus eigener Kraft und nach eigenem inneren Plan zu entwickeln -und sie anhand anregender, hochqualitativer Materialien dabei unterstützen, die Welt der Erwachsenen kennenzulernen und lebenspraktische Fähigkeiten auszubilden: Darum geht es in der Pädagogik von Maria Montessori (1870-1952). Es war im Jahr 1907, als die italienische Psychiaterin, Anthropologin und Reformpädagogin im Armenviertel San Lorenzo in Rom für Kinder aus sozial schwachen Familien ihr erstes Kinderhaus ("Casa dei Bambini") gründete. In kürzester Zeit lernten die zuvor verwahrlosten, kaum geförderten Kinder hier schreiben und lesen. Statt Animateure oder Dompteure zu sein, statt ständig zu strafen, zu korrigieren, zu vergleichen oder auch zu loben, sollten die Lehrerinnen und Lehrer nach Montessori als Anreger fungieren - und durch stille Beobachtung herausfinden, wann sich bei den Kindern ein besonderes Interesse herausbildet. Dann ist es Zeit, neue Anregungen zu geben. "Hilf mir, es selbst zu tun!"- das sollte ihr pädagogischer Leitsatz werden.

Wie wichtig Autonomie im Lernprozess ist -und wie sehr zu viele Vorgaben und überängstliche Begrenzungen diesen Prozess behindern können -hat der französische Dokumentarfilmer Alexandre Mourot bei seiner eigenen Tochter erlebt. Verblüfft von seinen Erfahrungen fing er an, sich näher mit dem Montessori-Prinzip zu beschäftigen: Er sprach mit Experten, besuchte Montessori-Schulen (weltweit sind es heute etwa 40.000) - und fand schließlich im Jeanne-d'Arc-Montessori-Kinderhaus in Roubaix, der ältesten derartigen Einrichtung in Frankreich, ideale Bedingungen vor.

Ein Jahr lang begleitete Mourot mit seiner Kamera eine Gruppe von zweieinhalb bis sechsjährigen Kindern. Er filmte sie auf Augenhöhe, um ihre Gedankengänge nachvollziehbar zu machen. Die Szenen, die er dabei einfangen konnte, sind im Bewusstsein klassischer Lernabläufe in herkömmlichen Schul-Settings faszinierend. Vor allem der Lehrer des Kinderhauses, Christian Maréchal, beeindruckt: Mit größter Sorgfalt bereitet er die Materialien vor, mit größter Sensibilität beobachtet er die Interessen der Kinder und widmet ihnen, wenn es an der Zeit für neue Anregungen ist, ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Ruhe und Konzentrationsfähigkeit des Lehrers überträgt sich auch auf die Kinder. Vor allem der kleine Géraud erweist sich als Glücksfall für den Film. Das fast vibrierende Interesse des kleinen Buben an allen Entdeckungsmöglichkeiten, die das Montessori- Kinderhaus zu bieten hat, raubt den Atem. Zucker von einem Kännchen ins andere leeren zu können, ohne dass etwas danebengeht, wird zum ultimativen Erfolgserlebnis; eine Orange auspressen zu können, zum bewundernswerten Kunststück.

"Das Kind kann viel für uns tun"

"Kinder haben ein persönliches Bedürfnis nach Perfektion", sagt die Erzählerstimme des konzentrierten Filmes, der weitgehend ohne musikalische Untermalung auskommt. Und: "Das Kind hat einen Drang zu arbeiten." Geputzt wird folglich gemeinsam, abgenommen wird den Kindern nichts. Auch der Umgang mit Gefahren wird gelernt: Heiß werdende Bügeleisen gibt es ebenso wie Zündhölzer und Messer. Bei all dem reifen die Kinder -am meisten jedoch beim sensiblen Umgang mit anderen. Die Achtsamkeit, mit der sie in der letzten Szene im Kreis eine Glocke weitergeben, ohne dass ein Ton entweicht, beeindruckt. "Das Kind kann viel für uns tun", sagt Maria Montessori -",mehr, als wir für es tun können." (dh)

Das Prinzip Montessori -Die Lust am Selber-Lernen F 2017. Regie: Alexandre Mourot. Polyfilm. 100 Min.

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